Gunnar Zötl, 04.03.1995

Viereinhalb Sekunden

Der Wind rauft meine Haare. Es ist kühl hier oben, aber er Blick über die nächtliche Stadt ist gut. Bestimmt zwei Kilometer sind es bis dorthin, wo sich die Lichter mit dem Smog zu dem einheitlich grau leuchtenden Dunst vermischen, der von draußen weithin sichtbar wie eine Glocke über der Stadt liegt.

Meine Beine werden schwach, der vertraute und verhasste Schmerz fährt durch meinen Körper, wie um mich daran zu erinnern, warum ich hier bin, und ich stöhne leise. Ich schaue über den Rand des Daches auf die Straße, die fast 100 Meter unter mir liegt. Es ist schon zu spät, dort unten ist niemand mehr. Die Laternen beleuchten leere Bänder schmutzigen Asphalts, die sich durch die Stadt winden wie Blutbahnen, die eine Krankheit in alle Teile des Körpers tragen. Selbst in der Stille dieser Nacht beherrscht sie mein Denken, meine Gefühle, meinen Körper, mich. Doch ich werde ihr entkommen.

Mein linkes Bein knickt ein, als ein greller Blitz scharfen Schmerzes durch meinen Körper fährt, wie um mich für diese Gedanken zu bestrafen, und ich falle zu Boden. Sie lässt mich nicht los, lähmt meinen Körper und meinen Willen. Ich muss liegen bleiben, warten, bis es vorbei geht. Leise wimmernd warte ich darauf, dass mein Körper wieder mir gehört. Kalter Schweiß bricht mir aus allen Poren, und ich friere erbärmlich, aber das alles ist nichts gegen den Schmerz.

Endlich lässt er ein wenig nach, und ich kann mich wieder bewegen. Langsam krieche ich auf den Rand zu, die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Schmerz und Vergessen,und bei jeder Bewegung schreit mein Körper. Jetzt ist es geschafft, und kein Krampf, kein Schmerz wird mich noch aufhalten können. Sie hat mich besiegt, aber ich werde ihr jetzt ein letztes Schnippchen schlagen. Sie lässt mich leiden, aber sie wird mich nicht langsam krepieren lassen.

Ich liege am Rand, schaue hinunter, beiße die Zähne zusammen. Alles ist besser als dieses Leben. Das Bein zuckt wieder, verkrampft sich. Ja, jetzt geht es Dir an den Kragen, und Du hast Angst. Aber jetzt ist es zu spät. Ich schiebe mich über den Rand des Daches, und als mein Körper keinen Halt mehr hat, fängt sie an, sich zu winden. Jeder Muskel verkrampft sich, meine Gliedmaßen wirbeln in wilden Zuckungen durch den Wind. Jetzt noch viereinhalb Sekunden, dann ist es vorbei. Sie schreit vor Angst, und ich vor Schmerz, und mein Körper tanzt im Takt zu dieser Musik.

Ein nasser Fleck auf dem Asphalt, und dann wird mein Kopf wieder in den Nacken gerissen. Der Schmerz ist unerträglich, ich bekomme keine Luft mehr. Geranien in Blumenkästen auf einem Balkon, und dann ein Gesicht an einem Fenster. Vorbei, untergegangen in unserem vereinten Gebrüll, das jetzt nur noch wir hören können. Wo bin ich jetzt? Der Krampf im Nacken löst sich, mein Kopf sackt kraftlos nach vorne. Sie reißt meine Beine vor den Körper, und ein Knie trifft meine Lippen. Die Arme wedeln durch die Luft wie Stöcke in Autofelgen, aber jetzt ist es, als sei das nicht mehr mein Körper. Für einen Augenblick wird es schwarz vor meinen Augen

Die Fenster rasen an mir vorbei, viereinhalb Sekunden sind sehr lang. Dort steht ein Fahrrad auf einem Balkon, und ich spüre wieder den harten Griff des Krampfes im Nacken. Mein Blick fährt nach oben, sie presst den letzten Rest der Luft in meiner Lunge aus mir heraus, einem hellen Licht entgegen. Vorbei, mein Schatz, das war es. Sie brüllt furchtbar, doch bevor sie meine Gliedmaßen noch einmal herumschleudern kann, erkennt auch sie, das es zu spät ist. Das war das Licht einer Straßenla…

Diese Kurzgeschichte ist veröffentlicht unter den Bedingungen der CC BY 4.0