Süßes Leben
Alfons war schon seit einiger Zeit an diesem Ort. Letztendlich war es nicht schlecht, es waren noch viele wie er hier. Naja, viel konnte Alfons hier nicht tun, aber das wollte er auch nicht, es war es zufrieden, herumzuliegen und sich an Monika zu kuscheln, die er hier kennengelernt hatte. Wo er vorher gewesen war, davon hatte Alfons keine Ahnung. Wozu auch, er war nicht der einzige hier, den das überhaupt nicht interessierte.
Klausi betrat das Geschäft. Seit fast einer Woche hatten er und sein Freund Peter gespart, und nun hatten sie das Geld zusammen. Seine Eltern konnten sich nicht dafür begeistern, was er hier tat, und wenn sie es erfuhren, wäre der Teufel los. Immer die gleichen Sprüche, “Wir wissen schon was gut für Dich ist”. Nur mit gut konnte man aber keinen Spaß haben.
Alfons räkelte sich. Es war angenehm warm, und Monika roch so herrlich süß. Hier konnte er es ewig aushalten. Ganz tief in sich drin aber fühlte er, dass sich bald etwas ändern würde. Er schob diesen Gedanken beiseite und küsste Monika auf den Bauch.
Klausi ging durch die Gänge, und suchte. Er war extra in einen Laden in der Nachbarstadt gegangen, den seine Eltern nie aufsuchten, damit sie nichts erfahren würden. Das Wissen, etwas Verbotenes zu tun, schob ihm angenehme Schauer über den Rücken, und Klausi genoss dieses Gefühl.
Vielleicht würde er Monika einmal heiraten, dachte Alfons, aber zunächst einmal war es gut so wie es war. Er drehte sich ein wenig auf die Seite, und stieß dabei an Eva. Ach, Eva. Dies war das richtige Leben, und er konnte sich nicht vorstellen, wie es anders sein könnte.
Da waren sie. Klausi schaute noch einmal in seine Tasche, und kontrollierte den Betrag, den er bei sich hatte. Es stimmte genau, schließlich hatte er das Geld vorher schon vier mal gezählt. Er sah sich noch einmal um, niemand zu sehen, den er kannte. Er griff zu.
Eva lächelte Alfons an, und küsste ihn auf die Nase. Alfons lächelte zurück. Monika streichelte ihm über den Kopf. Alfons dachte gerade über eine Veränderung seiner Lage nach, sodass er noch ein wenig näher an Karla heranrutschen konnte, ohne sich dabei von Monika und Eva zu entfernen, als plötzlich ein heftiger Ruck seine Welt erschütterte.
Klausi drückte sie an sich, und schlich aufgeregt und sich ständig umsehend durch die Gänge zurück zur Kasse. Es fiel ihm sehr schwer, sich zu beherrschen, aber noch musste er warten.
Alle kamen in Bewegung, rutschten und purzelten übereinander. Alfons klammerte sich an Monika fest, aber Eva war schon in den Massen der anderen verschwunden. Er versuchte, sie zu finden, aber das war aussichtslos. Viele fielen an ihm vorbei, die meisten kannte er nicht.
An der Kasse war Klausi der Dritte, und bis er schließlich an der Reihe war, trat er aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Er bezahlte schnell, ignorierte die Blicke der Kassiererin, und verschwand so schnell, wie er konnte, auf die Straße. Er stopfte sie unter seine Jacke, und wandte sich dann nach rechts, in Richtung Wald. Hastig eilte er vorwärts.
Monika rutschte über Alfons hinweg, und einige der Anderen stießen ihm im Vorbeifallen heftig an den Kopf und andere Teile seines Körpers. Schließlich konnte er auch Monika nicht mehr halten, und bevor er noch etwas unternehmen konnte, war sie zwischen den Anderen verschwunden. Schließlich hörte es auf, und für einen Augenblick war es ruhig. Es liefen immer noch leichte Erschütterungen durch die Menge derer, zwischen denen er eingeklemmt war, aber es gelang ihm, eine Position zu finden, in der er nicht völlig bewegungsunfähig war. Dann änderte sich etwas, die Lage blieb gleich, aber rhytmische Erschütterungen pressten ihn und alle anderen mehr und mehr zusammen, dazu kam, dass offensichtlich von außen etwas drückte.
Schließlich hatte Klausi den Wald erreicht. Jetzt war es nicht mehr weit. Noch diesen Weg bis zur übernächsten Kreuzung, dann links, und dann war er auch gleich da. Das Herz schlug Klausi vor Aufregung bis in den Hals, und er konnte es kaum mehr erwarten. Kaum war er da, riss er die Zweige beiseite, die den Eingang versteckten, und dann saß er in der Hütte, die er zusammen mit seinem Freund Peter hier gebaut hatte. Peter war schon sieben, und damit ein ganzes Jahr älter als Klausi. Trotzdem verboten auch seine Eltern es auch ihm. Peter wartete schon, er hatte zwei Flaschen von dieser süßen, klebrigen Limonade besorgt, die Klausis Eltern ihm auch verboten hatten. Schlecht für die Zähne sollte das sein, und Klausis Eltern waren sehr ungehalten gewesen, als sie einmal eine dieser Flaschen unter seinem Bett gefunden hatten.
Die Erschütterungen hielten eine ganze Zeitlang an, und auch der Druck von außen, sodass Alfons mit den Anderen, die er fast alle nicht kannte, so heftig zusammengepresst wurde, dass sich niemand mehr bewegen konnte. Alfons bemerkte, wie einer in seiner Nähe plötzlich anfing, heftig zu zucken. Wahrscheinlich Platzangst, dachte er, und dass es ihm selbst wahrscheinlich bald genauso gehen würde. Er sorgte sich um Monika und Eva, die noch weiter unten lagen als er selbst. Ob sie auch versuchten, zu zappeln, sich zu bewegen, ohne sich dabei über die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen im Klaren zu sein, weil sie panische Angst hatten?
Klausi grinste Peter an, und holte sie aus seiner Jacke. Peter grinste zurück. Klausi hielt sie über das Plastiktablett, dass er extra zu diesem Zweck zuhause entführt hatte, und riss sie auf. Dann holte er die anderen beiden aus seiner Jacke, und riss diese auch auf. Währenddessen schenkte Peter die Limonade in zwei Pappbecher. Sie setzten sich einander gegenüber an das Tablett, jeder einen Becher mit Limonade zu seiner rechten, und beide falteten die Hände. Gleichzeitig fingen sie an, das Tischgebet zu sprechen, dass sie sich extra für diesen Anlass ausgedacht hatten:
“Lieber Gott, wir danken Dir, dass sich auf diesem Tisch keine getrockneten Rüben, kein Spinat, kein Lebertran und auch sonst nichts befindet, das gut für uns ist. Amen”
Noch einmal grinsten sie sich an, und dann langten sie beide auf das Tablett und stopften sich ganze Hände voll in den Mund.
Die Erschütterungen hatten aufgehört. Ab und zu ging noch ein leises Schwanken durch die Massen, aber ansonsten war es jetzt ruhig. Das Zucken neben ihm hatte schon längst aufgehört, der arme Teufel hatte aufgegeben. Alfons selbst hatte sich kaum noch unter Kontrolle, trotzdem wartete er, was nun passieren würde. Und es passierte etwas, plötzlich hörte er ein reißendes Geräusch, und dann fiel er weit nach unten. Er landete auf einer Menge anderer Körper, und eine Menge weiterer landete auf ihm. Für einen Augenblick wurde ihm schwarz vor den Augen, aber er fing sich wieder. Die meisten um ihn herum waren durch den tiefen Sturz ohnmächtig, einige hatten sich verletzt. Alfons fing an, die Körper über ihm an die Seite zu räumen, und als er dies fast geschafft hatte, und schon etwas anderes als Körper über sich sah, fiel eine weitere Ladung Körper nieder, und wieder war ihm die Sicht versperrt, und wieder bekam er einige heftig Schläge ab. Diesmal hatte er das Gefühl, dass unter der Last etwas in seinem Körper gebrochen war. Dass dann noch mehr kamen, nahm er nur noch am Rande wahr.
Peter und Klausi prosteten sich mit den mit Limonade gefüllten Bechern zu, und tranken in vollen Zügen. Peter schenkte sofort nach, und beide wandten sich wieder dem Tablett zu.
Als Alfons wieder zu sich kam, sah er, wie etwas sehr großes von oben kam, und direkt neben ihm einige seiner Leidensgenossen aus der Menge griff und nach oben hob. Das musste schon mehrfach geschehen sein, denn er lag relativ frei. Jetzt, so dachte er, ist der geeignete Augenblick, um in Panik zu verfallen; Da aber fingen der Haufen der Körper, auf dem er lag, an, in die von dem Ding gerissene Lücke zu rutschen, und als er nach kurzer Talfahrt unten ankam, lag er neben Monika. Sie sah ihn auch, und sofort griffen sie nacheinander. Monika war schwer verletzt, sie musste unmittelbar auf den Untergrund gefallen sein, so dass ihr Aufschlag nicht von anderen Körpern gebremst wurde. Alfons hielt sie fest, und sie weinte.
Als wieder so ein Ding von oben kam, erwischte es Monika, aber Alfons ließ sie nicht los. Sie war mit beiden Beinen eingeklemmt, und Alfons hielt sich an Ihr fest; er wollte sie nicht noch einmal verlieren. Das Ding hob sie nach oben, und Alfons musste alle seine Kräfte aufbieten, um sich festzuhalten. Nach einem Augenblick heftigen Anhebens ging es in einem Bogen wieder ein Stück nach unten, und Monika fing an, zu schreien. Alfons drehte den Kopf in die Richtung, in die Monika blickte, und was er sah, ließ seine Blase undicht werden und seine Eingeweide gefrieren: sie bewegten sich auf ein Loch zu, das fast so groß war, wie das Ding, das Monika festhielt. Dieses Loch war am Rand, und soweit er sehen konnte auch im inneren, rot und irgendwie feucht, und es lagen zerfetzte Reste von einigen der Anderen dort drinnen. An der oberen und der unteren Seite hatte das Loch Reihen großer weißer, scharf aussehender Steine, die offensichtlich seine Kameraden zermalmt hatten, und in der Mitte saß ein beweglicher Zapfen, der ihnen schon entgegen kam. Nach hinten führte dieses Loch in einen Gang, dessen Ende irgendwo hinter der Dunkelheit lag.
Alfons klammerte sich an Monika, und als dieses Ding sie losließ und sie in die Höhle gefallen waren, wurden sie sofort von dem Zapfen an die Seiten der Höhle gedrückt, wo sich weitere dieser Steine befanden. Zwischen den zerquetschten Resten Einiger und den sich windenden Leibern Anderer trieben sie unaufhaltsam und sehr schnell auf die Steine am Rand zu, während sich die Höhle langsam schloss. Das letzte, was Alfons sah, bevor der Eingang zur Höhle sich völlig geschlossen hatte, waren die sich aufeinander zu bewegenden großen Steine, von denen sich mittlerweile einige über ihnen befanden, und einige unter ihnen, und der Ausdruck grenzenloser Angst in Monikas Gesicht, dann wurde es dunkel.
Da Tablett war fast leer, und Klausi stopfte sich die vorletzte Hand voll Gummibärchen in den Mund. Diese Dinger schmeckten so herrlich süß, was konnte denn daran nicht gut sein? Er nahm noch einen Schluck Limo, den er zwischen die Bärchen in seinem Mund hindurch schlürfte.
In der Ecke, wo Klausi sie hingeworfen hatte, lagen sie noch, die leeren Tüten.
Diese Kurzgeschichte ist veröffentlicht unter den Bedingungen der CC BY 4.0