Gunnar Zötl, 03.11.1994

Pettenstein

“Was für ein hübsches Schloss”, rief Karin, als der Kleinbus um eine Ecke bog und Schloss Pettenstein dadurch in Sicht kam. Auch die anderen waren sichtlich begeistert. Sie hatten diese Reise nach Pettenstein mit zwei Tagen Vollpension im Schloss sozusagen als Prämie erhalten, weil sie bei der alljährlichen Sammlung für die Erhaltung des schon recht fauligen Uhrenturmes in ihrer Heimatgemeinde Karlstadt die mit Abstand Erfolgreichste Gruppe gewesen waren. Neben Karin waren da noch ihr Freund Fred, Claudia und Kurt, Ingrid, Klaus, und Freds immer etwas mürrischer Bruder Christoph. Sie alle waren Schüler des Luga-Belosi-Gymnasiums in Karlstadt und besuchten dort die Klassen 12 und 13. Dann war da natürlich noch Ludwig, der Busfahrer, aber Ludwig würde sie nur absetzen und dann zurückfahren, um sie erst am Sonntag wieder abzuholen.

Alle drängten nach vorne, um das Schloss ebenfalls sehen zu können “Und da, die hübschen Blumen”, sagte Ingrid und deutete auf den linken der beiden Türme, der von einem nicht identifizierbaren Kraut mit blutroten Blüten dran schon fast bis ganz oben hin zugewuchert war. Sie fuhren jetzt durch den kleinen Schlosspark auf einer Auffahrt, die direkt zum Hauptportal des Schlosses führte. Links und rechts von ihnen erstreckt sich ein gepflegter Rasen mit kleinen, in Form getrimmten Büschen und kleinen, ordentlich angelegten Beeten. Um diesen kleinen Park herum erstreckte sich der Wald, durch den sie die letzten 10 Minuten gefahren waren, und hinter dem Schloss erhob sich malerisch ein nackter Felsgipfel. Alle schauten sich die Anlage an, bis auf Christoph, der anfing, die Reste seines während der Fahrt eingenommenen ersten Mittagessens wegzuräumen. Er hatte die vage Hoffnung, dass es im Schloss ein zweites geben würde.

Vor dem Eingang wartete eine sehr schlanke ältere Dame mit hochgestecktem, weißem Haar, die ein züchtiges schwarzes Kleid trug, das bis zum Hals hinauf zugeknöpft war, und ein kräftiger Mann mittleren Alters, der eher leger in Jeans und Flanellhemd gekleidet war.

“Die sieht aus wie Misses Bates”, flüsterte Fred beim Aussteigen Klaus zu, und beide kichterten. Misses Bates kam auf sie zu, reichte ihnen die Hand zum Gruß, stellte sich als Erna Mahler vor, und hieß sie alle herzlich willkommen. Sie führte das Hotel, das seit nunmehr fast 15 Jahren im Schloss untergebracht war. Sie machte einen sehr freundlichen, warmherzigen Eindruck, und war allen sofort symphatisch, selbst Christoph. Ludwig lud währenddessen das Gepäck aus dem Kofferraum des Busses, doch als er sich von den jungen Leuten verabschieden wollte, fragte ihn Frau Mahler, ob er vielleicht noch mit zu Mittag essen wolle. Da er seit dem Frühstück vor 4 Stunden noch nichts gegessen hatte, nahm Ludwig gern an. Jeder nahm sein Gepäck auf, und dann begaben sie sich ins Schloss.

“Hast Du gesehen”, sagte Ingrid beim Essen zu Klaus, “es ist außer und niemand hier”

“Es ist halt außerhalb der Saison”, entgegnete Klaus, und widmete sich wieder seinen Butterspätzle. Der Speisesaal war so groß, dass es trotz der Einrichtung und den Menschen, die sich jetzt darin befanden, noch ein leichtes Echo gab. Die Wände waren mit Schwertern und Schilden und allerlei Wappen und Fahnen geschmückt, die auf dem blanken Stein hingen. Ueberhaupt waren die Gästezimmer scheinbar die einzigen Räume im Schloss, die so etwas wie eine Tapete hatten. Die große Eingangshalle, in die sie eingetreten waren, war bis auf eine Ritterrüstung mit Hellebarde und Schwert in der einen und der Rezeption in der anderen Ecke und der schweren Treppe, die nach oben zur Ballustrade führte, in der Mitte der dem Portal gegenüberliegenden Wand völlig leer, und auch dort gab es nur nackten Stein an Wänden und Boden. Christoph hatte das “Stilecht” genannt, und Ingrid und Karin fanden es romantisch. Aber eigentlich war es bloß ungemütlich. Das einzige, bei dem sich alle einig waren, dass es irgendwie toll war, war die Tatsache, dass es außer auf den Gästezimmern und an der Rezeption kein elektrisches Licht gab. Ueberall standen große Kerzenständer herum, in denen halb abgebrannte Kerzen steckten, und unter diesen Kerzenständern hatte der Boden oder der Tisch, auf dem sie standen, Wachsflecke. Da sich immer jeweils zwei der Gästezimmer ein Bad teilten, das zwischen ihnen lag, gab es aber auch keine Not, bei Dunkelheit im Schloss herumzuschleichen.

Das Mittagessen war von Erna Mahler und dem Mann in Jeans aufgetragen worden, offensichtlich gab es ansonsten auch kein Personal hier im Haus. Der Mann in Jeans hatte seit ihrer Ankunft noch kein Wort gesprochen, und war auch sofort wieder verschwunden, nachdem er das Mittagessen aufgetragen hatte, aber Erna unterhielt sich angeregt mit ihnen, wollte alles über die Fahrt und die diesjährige Sammelaktion in Karlstadt wissen, und gab auch selbst einige Anekdoten aus Pettenstein und den umliegenden Wäldern zum Besten, so dass es draußen schon anfing zu dämmern, als Ludwig sich endlich verabschiedete, um zurückzufahren. Er ging nach draußen, und Erna entschuldigte sich, um Vorbereitungen für das Abendessen zu treffen, das es um 19 Uhr geben sollte.

Klaus und Ingrid wollten die Zeit noch für einen Spaziergang im Schlosspark nutzen, aber als sie den Eingang vom Schloss erreichten, kam ihnen Ludwig von draußen entgegen und teilte ihnen mit, dass sein Bus nicht ansprang. Klaus ging mit ihm nach draußen, um mal nachzusehen, und Ingrid eilte zurück in den Speisesaal, um Fred und Christoph zu holen, deren Vater Automechaniker war, und die selbst schon fast alle Autos in- und auswendig kannten. Als sie aber eben ausgeredet hatte, standen außer Fred und Christoph, der trotz seiner mürrischen Art sehr hilfsbereit war, auch alle anderen auf und gingen nach draußen, um sich anzusehen, was mit dem Bus los war. Als sie aber draußen ankamen, hatte Klaus das Problem schon gefunden. Igendein Tier hatte die Verteilerkappe geklaut, in kleine Krümel zerbissen und damit eine Spur von Bus bis kurz vor den Waldrand gelegt.

“Dafür hätte ich nicht herauskommen brauchen”, murmelte Christoph, und Ludwig fluchte leise vor sich hin, aber die anderen fanden das in ihrer fröhlichen Stimmung eher lustig.

“Komm, bleib einfach auch hier, und morgen sehen wir, ob Frau Mahler ein Gefährt hat, mit dem Du nach Pettenstein fahren und Dir eine neue Kappe besorgen kannst”, sagte Klaus und schlug Ludwig freundschaftlich auf die Schulter.

“Ich habe einen Blick in den Kühlschrank werfen können”, fügte Kurt hinzu, “der ist voll mit Bier”. Ludwig fing an zu lächeln.

“Gut, dann bleibe ich. Es bleibt mir ja eh nicht viel übrig, es wird schon dunkel und im Dunkeln finde ich den aus dem Dorf Weg hierher niemals.” sagte er schließlich, und grinste dabei schief in die Runde, die ihm fröhlich applaudierte. Ludwig schloss den Bus ab, und dann gingen alle wieder hinein. Erna - Frau Mahler - lächelte nur, als Ludwig von seiner Panne erzählte, und sagte, dass das kein Problem sei. Dann ging sie mit ihm zur Rezeption und gab ihm den Schlüssel für das Zimmer, das sich mit Christophs ein Bad teilte.

Auch das Abendessen war gut und reichlich, und inzwischen kamen sich alle vor, als sollten sie hier gemästet werden. Nach dem Abendessen führte Frau Mahler sie alle in ein Zimmer, das sie den Gemeinschaftsraum nannte. Dieser war wesentlich kleiner als das Esszimmer, und mit gemütlichen Sofas und kleinen Tischen eingerichtet. Außerdem gab es ein Regal mit Büchern und Gesellschaftsspielen, eine kleine Bar, in der der Kühlschrank mit dem Bier und anderen Getränken stand, den Kurt so großmundig versprochen hatte, obwohl er natürlich hier noch keinen Kühlschrank hatte sehen können, ein Radio und natürlich ein Kamin, in dem ein kleines Feuer knisterte. Frau Mahler sagte ihnen noch, dass sie sich aus dem Kühlschrank ruhig selbst bedienen könnten, aber aufschreiben sollten, was jeder getrunken hatte, damit sie das dann mit der Stadt abrechnen könnte, und verabschiedete sich dann, um ins Bett zu gehen.

Nach und nach gingen sie schließlich auch in ihre Betten, und als es um kurz nach Mitternacht am Tor klopfte, sassen noch Kurt, Ludwig und Ingrid im Gemeinschaftsraum und unterhielten sich so über dies und das. Die drei sahen sich erstaunt an, und dann fasste sich Ludwig ein Herz und ging hinaus zum Tor. Die anderen beiden folgten ihm neugierig. Noch während sie durch die Halle gingen, klopfte es erneut am Tor.

Als Ludwig das Portal öffnete, stolperte der Mann mit den Jeans herein, der sich scheinbar an die Tür gelehnt hatte, um nicht zu verpassen, wenn sie geöffnet würde. Offensichtlich war er völlig betrunken.

“Schulljung, schschab meijn Schnüssl värssn”, lallte er Kurt, der ihn aufgefangen hatte, ins Gesicht. Kurt rümpfte die Nase.

“Was sagt er?”, wollte Ingrid wissen.

“Er hat seinen Schlüssel vergessen”, übersetzte Ludwig.

“Er spricht”, stellte Kurt fest und grinste die anderen beiden an.

“Ichcheiß üwrings Erch”, meinte der Mann mit den Jeans, und Ludwig übersetzte das sofort damit, dass der Name des Mannes Erich sei. Erich lächelte alkoholselig die Tür rechts neben der Treppe an, die unter anderem zum Gemeinschaftsraum und dem darin befindlichen Kühlschrank führte. Noch bevor ihn jemand aufhalten konnte torkelte er in einem bemerkenswerten Tempo los, und war schon am Kühlschrank, als die anderen ihn schließlich erreichten.

“Auchn Biah?”, fragte er, und Kurt und Ludwig sahen sich grinsend an.

“Warum nicht”, sagte Ludwig.

“Ich geh jetzt ins Bett”, sagte Ingrid, und verzog angewidert das Gesicht, als sie zusah, wie Erich sich bemühte, nicht vornüber in den Kühlschrank zu fallen. Dann drehte sie sich um und verschwand in Richtung Treppe.

Erich reichte mit einer schwungvollen Bewegung zwei Flaschen Bier nach hinten, und Kurt sprang nach vorne, um sie schnell zu fangen, bevor Erich sie gegen die Wand schlagen würde.

“Danke”, sagte Kurt, und gab eine der Flaschen an Ludwig weiter. Der fing sofort an, in seiner Tasche nach dem Flaschenöffner zu kramen. Erich hatte sich auch selbst ein Bier aus dem Kühlschrank geholt und versuchte jetzt, sich wieder hinzustellen. Kurt und Ludwig halfen ihm dabei, hoben ihn hoch und bugsierten ihn auf das nächste Sofa. Dann öffneten sie die drei Flaschen und stießen mit Erich an.

Erich hielt sich noch erstaunlich lang, und scheinbar hatte er normalerweise niemanden, mit dem er sich unterhalten konnte, denn er redete wie ein Wasserfall. Je länger er redete, desto deutlicher wurde seine Aussprache, so dass es nach einiger Zeit auch Kurt gelang, das zu verstehen, was Erich erzählte. Obwohl er sturzbetrunken war, war das, was Erich erzählte, wirklich interessant. Er wusste eine ganze Menge über diesen Landstrich und kannte mehr alte Sagen über diese Region, als es nach Kurts Ansicht überhaupt gab. Dabei trank er noch eine ganze Menge Bier, und auch Ludwig und Kurt machten sich noch die eine oder andere Flasche auf.

Dann, morgens gegen 3 Uhr, fing er an, über das Schloss zu reden. Auch hier wusste er sehr viel, über die Geschichte des Schlosses und über das Geschlecht derer von Pettenstein, aber der interessanteste Teil war wohl, warum sich das Schloss jetzt nicht mehr im Besitz der Pettensteins befand, sondern im Besitz der Stadt Pettenstein, und warum es jetzt ein Hotel war.

“Da war nämlich”, erklärte er, “vor etwa 17 Jahren dieser Baron Carl von Pettenstein, und der war nich ganz dich, wenn ihr versteht was ich meine”, und machte dabei mit dem Finger so eine Bewegung, als wollte er sich auf seiner Schläfe eine Locke drehen.

“Der hat seine Familie und einige Wanderer auf grau-“ er unterbrach sich kurz, um zu husten. “Grausame Weise umgebracht, mit ner Axt, so sagt man wenigstens”. Er schaute zwischen Ludwig und Kurt hin und her, um zu sehen, ob sie ihn für verrückt hielten, doch beide waren sehr neugierig, wie es weitergehen würde, und sahen Erich aufmerksam an. Nachdem er sich des Interesses seiner Zuhörer versichert hatte, fuhr Erich fort.

“Zerstückelt hat er sie, sagt man. Insgesamt warn es sieben oder acht. Immer nachts. Den Roten Baron haben sie ihn genannt. Die Dörfler haben sich zusammengerottet und ihn gejagt, und wie sie ihn gefangen haben, war er über und über mit Blut beschmiert.” Erich schnitt eine Grimasse, um seiner Abscheu Ausdruck zu geben.

“Sie ham ihn dann gleich an nem Baum aufgehängt. Aber der Baron hat gesagt, er kommt wieder, in 17 Jahren, also, von damals gesehen. Genau in 17 Jahren.” Erich musterte intensiv den kleinen Ring, den seine Bierflasche auf dem Tisch vor ihm hinterlassen hatte.

“Heute is die Nacht wo er wiederkommen wollte.”, murmelte Erich leise, ohne den Blick von Tisch abzuwenden.

“Hey, Erich, das ist doch bloß so ne alte Geschichte”, sagte Ludwig aufmunternd, aber Erich schien davon nicht beeindruckt.

“Du hass den alten nich gekannt”, gab er zurück, und sah Ludwig ernst an. “Der kricht das hin, der kommt irgendwie wieder.”

In dem Augenblick ertönte von draußen auf dem Gang ein Poltern, und alle drei fuhren heftig zusammen. Erich drückte sich tief in das Sofa, auf dem er saß, als ob er hoffte, in ihm versinken zu können, aber Kurt und Ludwig machten sich mit einer Kerze auf den Weg nach draußen. Dort im Gang stand Claudia, nur mit ihrem Nachthemd bekleidet, vor einem Schild, den sie beim Tasten durch die Dunkelheit wohl von der Wand gestoßen hatte, und der ihr fast auf den Fuß gefallen war, und sah sie mit großen Augen an.

“Mensch, Kurt, ich wollte zu Dir rüberkommen, aber Du warst nicht da, und da wollte ich mal schauen, ob Du noch hier unten bist. Ich kann irgendwie nicht schlafen, und wollte mir noch ein Bier holen.”

Kurt ging zu ihr und nahm sie in den Arm, während Ludwig sich bemühte, den Schild wieder an die Wand zu hängen. Das erwies sich allerdings als nicht so leicht, weil er den Haken oder Nagel, an dem der Schild gehangen haben musste, nicht finden konnte. So stellte er den Schild dann einfach aufrecht an die Wand, und sie gingen zurück in das Gesellschaftszimmer, wo Erich immer noch versuchte, in die Ritze zwischen den Sofakissen zu versinken. Erich war sichtlich erleichtert, als Claudia mit Kurt und Ludwig den Raum betrat.

“Ich habe mich so erschrocken, als dieser Schild runtergefallen ist”, sagte Claudia, als sie sich hingesetzt hatten, und kuschelte sich näher an Kurt heran. Kurt legte seinen Arm um sie, und bot ihr von seinem Bier an, das noch fast voll war. Während sie davon trank, sagte Ludwig: “Das ist übrigens Erich, Claudia.”

Erich reichte ihr seine Hand, und sie schüttelte sie, wobei sie aber darauf achtete, nicht allzuviel von Erichs Hand zu berühren. Sie mochte es nicht einmal, wenn Kurt, mit dem sie jetzt schon seit immerhin fast zwei Jahren zusammen war, sich betrank, aber bei Fremden fand sie es einfach widerlich. Kurt berichtete ihr kurz von dem, was Erich erzählt hatte, ließ aber den Teil über die Auferstehung aus, weil er wusste, dass sie sich das zu Herzen nehmen würde. Erich, bei dem Erleichterung wohl zur Entspannung zu führen schien, versuchte krampfhaft, seine Augen offen zu halten, aber nach wenigen Minuten, noch während Kurt seine Erzählungen der letzten Stunden wiedergab, war er schon eingeschlafen. Ludwig nahm ihm vorsichtig die noch halbvolle Bierflasche aus der Hand, und schlug vor, dass sie jetzt auch ins Bett gehen sollten. Das taten sie dann auch, und Claudia ging mit zu Kurt.

“Mann, Du glaubst nie, was ich für einen Kram geträumt habe”, sagte Fred beim Frühstück zu Christoph. “So ein Typ, der tot war, aber wieder auferstanden ist, so richtig kultig, mit Menschenopfer und viel Blut und so.”

Christoph sah ihn an. “Du solltest Dir nicht immer diese Scheiß Horrorfilme ansehen”, sagte er. “Du bist schon völlig weich in der Birne.”. Fred ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, schließlich war er solche Sprüche von seinem Bruder gewöhnt, und wusste, wie er sie zu nehmen hatte.

“Hey, sowas träumt jeder mal”, entgegnete er, “sogar Du hast mit mal sowas erzählt.”, und grinste Christoph dabei triumphierend an.

“Warne mich das nächste mal, bevor ich anfange, Dir sowas zu erzählen.”, brummte Christoph. Fred grinste noch etwas breiter. Die Beiden waren lange vor den Anderen aufgestanden, und darum saßen sie schon im Frühstücksraum, als sonst noch keiner wach war. Fred hatte seinen Bruder sehr gern, obwohl der immer etwas knurrig war, aber im Gegensatz zu anderen älteren Brüdern hatte ihn Christoph noch nie verprügelt, und hatte sich immer für ihn eingesetzt. Darum genoss er es auch, dass er mit Christoph allein hier saß und sie sich ein bischen unterhalten konnten. Er fand es schade, dass die Art seines Bruders so viele Menschen davon abhielt, sich mit ihm zu beschäftigen. Ingrid, Klaus, Ludwig und natürlich er selbst, Fred, stellten fast den gesamten Freundeskreis von Christoph dar, und Fred war sich fast sicher, dass Ingrid sich in Christoph verliebt hatte. Und er hätte seinen Hintern darauf verwettet, dass Christoph sich auch in Ingrid verliebt hatte, aber der Knochen ließ sich, wie üblich, nichts anmerken. Fred hatte schon mehrmals versucht, das Gespräch darauf zu bringen, aber Christoph hatte jedesmal abgeblockt. Dennoch hatte sich Fred fest vorgenommen, zusammenzuführen, was seiner Meinung nach schon lange zusammengehörte, auch, wenn er noch keine Ahnung hatte, wie er das tun sollte.

Nach und nach kamen die anderen zum Frühstück, zuerst Ludwig, dann Claudia und Kurt, und dann Ingrid und Karin, die Fred mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange begrüßte. Das Frühstücksbuffet war schon aufgetragen gewesen, als Christoph und Fred heruntergekommen waren, und sie hatten weder Erna noch den Mann in Jeans, von dem Ludwig beim Frühstück erzählte, dass er Erich hieß, und allerlei Geschichten aus der Gegend kannte, hier schon herumlaufen gesehen. Ludwig machte sich unmittelbar nach dem Frühstück auf, um Erich oder Frau Mahler zu finden, damit er in die Stadt fahren konnte.

Als Klaus gegen Mittag immer noch nicht heruntergekommen war, ging Christoph hinauf, um nach ihm zu sehen. Erna und Erich waren schon aufgetaucht, und hatten angefangen, den Speisesaal aufzuräumen, was die Hotzelgäste dazu veranlasst hatte, sich un den Schlossgarten zurückzuziehen, und dort auf der Wiese eine Partie Volleyball zu spielen. Einen Augenblick später kam auch Christoph zurück, und teilte ihnen mit, dass er Klaus nicht gefunden hatte.

“Der Penner hat bestimmt wieder einen seiner gefürchteten Nachtausflüge gemacht”, bemerkte Kurt leicht ärgerlich.

“Wahrscheinlich hat er sich dabei verlaufen”, sagte Ingrid, und sah Christoph an.

“Wir sollten nach ihm suchen”, meinte der.

“Warten wir noch bis nach dem Mittagessen, vielleicht kommt er ja noch zurück”, schlug Fred vor, und darauf einigten sie sich dann. Klaus war bekannt dafür, dass er irgendwelche Regionen gern nachts erkundete, und mehr als einmal war er von einer solchen Tour erst am frühen Nachmittag zurückgekommen, darum machte sich niemand ernste Sorgen um ihn. Klaus konnte ganz gut auf sich selbst aufpassen.

Nach dem sehr leckeren Mittagessen machten sie sich immer in Zweiertrupps auf, um in der Umgebung nach Klaus zu suchen. Da Kurt mit Claudia und Fred mit Karin zusammen gehen wollten, ging Christoph schließlich mit Ingrid zusammen in den Wald. Er war ziemlich unsicher in ihrer Gegenwart. Sein vorlauter kleiner Bruder hatte behauptet, das käme daher, dass er sich in Ingrid verknallt hatte, und obwohl er ihm dafür kräftig den Kopf gewaschen hatte, konnte Christoph das nicht von der Hand weisen. Aber obwohl Ingrid immer sehr nett zu ihm war, malte er sich keine Chancen aus, und wollte sich den Schmerz ersparen, den eine Abweisung mit sich bringen würde. Wer wollte schon einen solch mürrischen Kerl wie ihn haben, aber so war er nun einmal, und daran konnte er auch nichts ändern. So ging er schweigend neben Ingrid her durch den Wald, und rief nur ab und zu mal Klaus’ Namen.

Ingrid hatte Christoph sehr gern, wie Fred schon vermutete, aber sie wusste so gar nicht, wie sie sich ihn nähern sollte. Manchmal hatte sie fast das Gefühl, dass sie ihm egal war, wenn da nicht dieser leichte Glanz in seinen Augen wäre, wenn er sie ansah. Als sie sich einmal mit Fred unterhalten hatte, und dabei vorsichtig das Thema auf Christoph und sein Verhältnis zu ihr gelenkt hatte, hatte Fred angedeutet, dass Christoph sich in sie verliebt hatte. Sie wünschte sich nur, dass das wahr wäre, und dass er sich ihr endlich nähern würde. Sie hatte nach den Gespräch mit Fred schon überlegt, ob sie vielleicht selbst den ersten Schritt wagen sollte, aber sie hatte gar keine Ahnung, wie sie das Anfangen sollte. So lief sie jetzt schweigend neben Christoph her, der ab und zu mal nach Klaus rief, aber ansonsten auch nur den Boden vor seinen Füßen ansah und dem Mund geschlossen hielt.

Kurt und Claudia kamen nur bis zur zweiten Parkbank, die sie am Wegesrand sahen, dann setzten sie sich hin und fingen sofort an zu schmusen. Sie waren fürchterlich ineinander verliebt, und diese Gegend hier war so romantisch, dass sie wie für sie gemacht schien. Kurt war in der letzten Nacht schon zu betrunken gewesen, um noch etwas hinzubekommen, aber trotzdem hatte sie sich in seiner Nähe wohler gefühlt als allein in ihrem Zimmer. Sie fand das Hotel trotz aller Romantik ein wenig unheimlich, und die Geschichte von diesem Baron, die Kurt ihr gestern nacht erzählt hatte, hatte nicht sehr dazu beigetragen, ihr das Gebäude sympathischer zu machen, auch wenn der schon lange tot war. So war sie froh, dort herauszukommen, und hier mir Kurt auf dieser Bank zu sitzen, wo sie niemand stören würde.

Fred fragte sich, wie sich sein Bruder wohl grade anstellen würde. Er redete mit Karin darüber, und obwohl sie nicht sehr viel für Christoph übrig hatte, verstand sie wohl, dass Fred ihn mochte, und da sie selbst Ingrid sehr gern hatte, und diese ihr einmal unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihre Gefühle für Christoph gestanden hatte, wollte sie gern helfen, die beiden irgendwie zusammenzubringen. Aber auch sie wusste nicht, wie sie das anstellen konnten.

Am späten Nachmittag kamen sie alle wieder am Schloss an, und niemand hatte Klaus gefunden. Fred ging nach oben, um nachzuschauen, ob er dort war, aber Klaus war auch nicht hiergewesen. Um sich aus seiner Verlegenheit herauszuholen, ging Christoph zur Rezeption, um dort die Polizei anzurufen. Karin ging mit Ingrid nach oben, wo sie sich frischmachen wollten, und die Anderen begaben sich ins Gesellschaftszimmer. Christoph kam nach einigen Minuten auch dorthin, und teilte den Anderen mit, dass die Polizei noch nichts unternehmen könne, da eine Person wenigstens 24 Stunden lang vermisst worden sein müsste, um als gemisst bei der Polizei gemeldet werden zu können. Resignation breitete sich aus.

“Was machen wir, wenn er morgen zur Abfahrt noch nicht wieder da ist? Wir können doch nicht ohne ihn fahren”, sagte Claudia.

“Dabei fällt mir ein, weiß jemand, was mit Ludwig ist?”, fragte Kurt.

Fred sah ihn an. “Der wollte in die Stadt. Ich finde es nur komisch, dass er sich nicht verabschiedet hat, als er losgefahren ist.”, sagte er.

“Vielleicht waren wir da schon weg”, bemerkte Claudia.

“Er ist nach dem Frühstück losgegangen, um sich ein Gefährt zu besorgen. Wir sind erst nach dem Mittag auf die Suche nach Klaus gegangen. Was hat er solange getan?”, fragte Christoph ruhig, doch Fred merkte deutlich, dass sein Bruder sich sorgte. Da ertönte von oben ein schriller Schrei. Noch bevor irgendjemand reagieren konnte, war Christoph schon aus dem Zimmer gerannt und auf dem Weg nach oben, und einen Augenblick später folgten schon die Anderen.

“Wo seid ihr?”, rief Christoph, als er oben ankam, doch da sah er Karin und Ingrid auch schon. Sie standen vor Ludwigs Zimmer, hielten sich gegenseitig in den Armen, und schluchzten heftig.

“Was ist los?”, fragte er, als er bei ihnen ankam, und Karin deutete nur auf Ludwigs Zimmer. Die Anderen waren inzwischen auch angekommen, und standen ratlos um Ingrid und karin herum. Christoph ging zu der Tür und öffnete sie vorsichtig. Ein merkwürdig metallischer, schwerer Geruch schlug ihm entgegen, und fast hätte er sich übergeben. Er öffnete die Tür weiter, und da sah er ihn. Ludwig lag auf seinem Bett, splitternackt, und sein Blut hatte das ganze Bettzeug rot gefärbt und unter dem Bett eine Lache gebildet. Christoph stand mit offenem Mund in der Tür und starrte Fasungslos auf das Bett. Irgendjemand hatte Ludwig mit einer Axt oder etwas ähnlichem getötet, und dann wieder und wieder auf den Körper eingeschlagen, bis nicht viel mehr als eine etwa menschenförmige rote Masse übriggeblieben war. Um das Bett herum waren Blutspritzer an den Wänden und Möbeln, in denen mit einer Hand herumgeschmiert worden war. Als er aus dem Augenwinkel bemerkte, dass Fred sich der Tür näherte, zog er sie schnell zu und stellte sich davor.

“Das solltest Du Dir nicht ansehen”, sagte er, “und wir sollten hier verschwinden, und zwar schnell!”, setzte er hinzu. Fred kannte diesen Tonfall, aber auch die anderen erkannten, dass Christoph im Moment keinen Widerspruch duldete. Sie eilten auf ihre Zimmer und fingen an, ihren Kram zusammenzupacken.

“Ihr solltet jetzt auch Eure Sachen packen”, sagte Christoph mit aller Ruhe, die er aufbringen konnte, zu Ingrid und Karin, die immer noch heulend auf dem Gang standen. Langsam bewegten sie sich in Richtung ihrer Zimmer, und Christoph begleitete sie.

“Glaubst Du, es will uns auch töten?”, fragte Ingrid Christoph.

“Ich weiß es nicht. Aber wir müssen ja nicht unbedingt hierbleiben, um es herauszufinden, oder?”, entgegnete Christoph, und lächelte sie aufmunternd an. Der Erfolg war eher mäßig.

“Ob es Klaus auch hat?”, fragte Karin. Darauf hatte er auch keine Antwort. Es war wahrscheinlich, aber das wussten die Beiden auch, und er musste es ihnen nicht auch noch sagen. Er drehte sich um und ging zu seinem eigenen Zimmer. Er hatte nicht viel dabei, und davon nicht viel ausgepackt, und darüber war er jetzt sehr froh. Er schaute sich in seinem Zimmer und dem angrenzenden Bad um, und schloss die Tür vom Bad zu Ludwigs Zimmer, bevor er anfing, seine drei Sachen zusammen- und in seine Tasche zu packen. In weniger als einer Minute war er damit fertig und raus aus dem Zimmer.

Fred war auch schon auf dem Gang.

“Christoph, was ist da drin los?”, fragte er, aber sein Zittern verriet, dass er schon eine recht klare Vorstellung davon hatte.

“Jemand hat Ludwig getötet”, antwortete Christoph. “Wir müssen hier raus. Wie weit sind Karin und Ingrid und die anderen?”

“Weiß nicht, ich schau mal”, sagte Fred, und ging den Gang entlang in Richtung Karins Zimmer. Seine Tasche stellte er dabei an der Treppe ab. Christoph ging zu Claudia und Kurt, und trieb sie zur Eile an. Kurt war schon fertig, Claudia vermisste, wie fast immer, ihr Nachthemd.

“Das lag noch bei mir, ich habe es eingepackt”, sagte Kurt. Christoph ließ die beiden allein und wollte nach Ingrid sehen. Die kam ihm entgegen, als er grad an ihre Tür klopfen wollte. und rannte ihn fast um. Sie mussten sich aneinander festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Einen Augenblick lang standen sie da im Türrahmen, hielten sich aneinander fest, und sahen sich in die Augen, da kamen Fred und Karin aus Karins Zimmer, und der Bann war gebrochen.

“Los gehts”, sagte Christoph, sah Ingrid noch einmal in die Augen, und ließ sie dann los und ging in Richtung Treppe, wo Kurt und Claudia schon warteten. Sie nahmen ihr Gepäck auf und gingen nach unten, wo sie auf Frau Mahler trafen, die eben die Halle betrat.

“Was ist denn hier los?”, fragte sie, und sah die Gruppe verblüfft an.

“Sie müssen hier heraus, jemand hat Ludwig und wahrscheinlich auch Klaus umgebracht”, sagte Kurt, und Frau Mahler blieb mit offenem Mund stehen.

“Wa- … wa- … “, stammelte sie.

“Ludwig liegt oben auf seinem Bett, wo Klaus ist, wissen wir nicht”, sagte Christoph. “Wir wissen nicht, was sie vorhaben, aber wir hauen hier ab und werden die Polizei verständigen.”

“Das werdet ihr nicht”, ertönte eine tiefe, kräftige Stimme vom Portal her. Dort stand ein Mann von etwa 35 Jahren, mit schwarzen Haaren, die er in einer Frisur trug, die seit wenigstens 20 Jahren nicht mehr aktüll war. Er trug einen schwarzen, dreiteiligen Anzug mit Fliege, und in seiner linken Hand hielt er eine lange Axt.

“Scheiße.”, sagte Kurt. Sie ließen ihr Gepäck dort fallen, wo sie standen, und während es die Treppe herunterpurzelte, rannten sie nach oben. Von unten hörte Ingrid noch die Worte “Hallo, Liebling”, und es klang nach Ernas Stimme.

Sie rannten nach rechts auf der Ballustrade entlang, und auf der hinteren Seite in einen dunklen Gang hinein. Was ihnen ursprünglich so stilecht vorgekommen war, das Fehlen jeglicher elektrischer Beleuchtung in den allgemein zugänglichen Bereichen dieses Schlosses, erwies sich jetzt als üble Falle. Je weiter sie in den Tunnel hineinrannten, desto weniger konnten sie sehen. Christoph wünschte sich, er hätte noch die Taschenlampe aus Ludwigs Bus holen können, aber dafür war es jetzt zu spät. Keiner von ihnen wusste, wo sie sich befanden, aber sie wussten, dass sie hier heraus mussten. Sie rannten weiter in dem Gewirr aus Gängen, das sich über das ganze Stockwerk zu spannen schien, geradewegs in eine Sackgasse hinein. Als sie sich umdrehten, um zurückzurennen, stand Erich hinter ihnen. Er hielt eine Pistole auf sie gerichtet, und schaute sehr traurig drein.

“Ich habe es Euch gesagt, der kricht das hin, der kommt irgendwie wieder. Und jetz isser da. Tut mir echt leid für euch.”

Kurt ging nach vorne, und schaute ihn an.

“Mensch, Erich, mach keinen Scheiß… wir sind doch Freunde, oder?”, sagte er. Erich sah sehr betrübt aus, als er nickte.

“Aber er ist der Chef. Ich soll Euch nicht töten, nur festhalten, bis er hier ist. Er bringt mich um, wenn ichs nich tu”.

“Aber Erich, er bringt uns um, wenn Du’s tust”, sagte Christoph.

“Ja, schon Scheiße, was?”, entgegnete Erich ehrlich betrübt. Claudia ging langsam nach vorne und sagte: “Hör mal Erich… ich meine, gestern abend, das war doch nett, oder?”. Erich sah sie an, während sie sich ihm immer weiter näherte.

“Ich weiß nich…”, sagte er. “Ich erinnere mich da nich mehr dran.”

“Doch”, sagte Claudia, “aber ich erinnere mich.”

Kurt wurde blass, und Christoph und Fred machten sich bereit, sofort loszusprinten, falls Erich sich irgendwie falsch bewegen sollte. Aber Erich starrte nur auf Claudia, die ihm langsam immer näher kam, und versuchte, sich daran zu erinnern, was gestern passiert war.

“Hör mal, Erich, ich meine…”, sagte sie, aber da war sie nahe genug an ihm dran und hob ihr Knie mit aller Kraft in seine Genitalien. Erichs Augen wurden schlagartig riesengroß, er ließ die Pistole fallen, und fiel japsend auf die Knie.

“Nichts für ungut, Erich”, sagte sie, und griff sich mit zitternden Fingern die Pistole. Im selben Augenblick rannte Kurt schon los, und die anderen folgten ihm. Sie kamen eben rechtzeitig um die Kurve, um zu sehen, wie der Mann mit der Axt eben diese seitlich bis zum Schaft in Kurts rechtem Ohr versenkte. Kurts Kopf wurde gegen die Wand auf der anderen Seite geschmettert, und dann sackte Kurt in sich zusammen. Der Axtmann stellte einen Fuß auf Kurts Hals und zog die Axt mit einem Ruck frei. Claudia und Ingrid schrien laut auf, und Karin fiel sofort in Ohnmacht. Fred erbrach sich über Erich, der immer noch stöhnend am Boden hockte.

“Schnell, wir müssen hier weg”, schrie Christoph, hob Karin über seine Schulter, und riss dann die anderen in seine Richtung. Sie rannten wieder durch das Gewirr der Gänge, weg vom Axtmann, und als Fred sich noch einmal umdrehte, sah er, wie dieser eben den Gang betrat, in dem Erich am Boden hockte. Sie rannten durch die Gänge, nach links und nach rechts, und als sie glaubten, sich völlig verirrt zu haben, standen sie plötzlich wieder auf der Ballustrade. Sie rannten um die Halle herum zur Treppe, und eilten dann hinunter, wobei sie aufpassen mussten, nicht über die Koffer zu fallen, die sie dort fallengelassen hatten. Das Portal war verschlossen. Genauer: es war abgeschlossen.

“So leicht ist das nicht, ihr werdet ihm vorgestellt, ob ihr wollt oder nicht”, sagte Ernas Stimme hinter ihnen. Sie wirbelten herum. Dort, neben dem Treppenabsatz, stand Erna mit einer Schrotflinte in der Hand, die sie auf die Gruppe gerichtet hielt. “So lang habe ich darauf gewartet, dass er zu mir zurückkommt, und jetzt braucht er doch sein Blut, damit er leben kann. Versteht ihr das denn nicht?”. Ihre Stimme war fast flehentlich, aber der Ausdruck ihrer Augen ließ keinen Zweifel daran, dass sie schießen würde, sobald sie Anstalten zur Flucht machen würden.

“Wo ist Klaus?”, fragte Christoph.

“Ich habe ihn gebraucht”, sagte Erna. “Er hat mir geholfen, meinen Carl zurückzuholen.”

“Die ist nicht mehr ganz dicht”, flüsterte Fred.

“Ich weiß, halt mal den Mund”, flüsterte Christoph zurück, und dann sagte er laut zu Erna: “Wer ist Carl?”

“Baron Carl von Pettenstein”, erklang die Antwort von oben. Der Axtmann war da.

Fred nahm Claudia die Pistole, die sie sowieso nur noch mit zwei Fingern hielt, aus der Hand, und machte sich bereit, Erna und den Baron mit der Axt zu erschießen. Er war gelegentlich mit seinem Vater auf dem Schießstand gewesen, darum glaubte er, dass er das irgendwie schaffen könnte. Der Baron ging um die Ballustrade herum zur Treppe und stieg sie langsam herab. Sein dreiteiliger Anzug war über und über mit dunklen Flecken gesprenkelt, und auch in seinem Gesicht waren Blutflecke. Erna sah liebevoll zu ihm auf, und in dem Augenblick riss Fred die Pistole hoch und drückte ab. Nichts tat sich.

“Die Sicherung, Du Idiot”, brüllte Christoph, während Erna nun ihrerseits die Schrotflinte hochriss. Christoph riss Ingrid mit sich zu Boden, und Karin ließ sich zur anderen Seite fallen, während Fred in einer einzigen Bewegung die Pistole entsicherte und gleichzeitig mit Erna abdrückte. Seine Kugel traf sie am Hals, und sie ließ ihr Gewehr fallen und taumelte rückwärts. Aber auch sie hatte jemanden getroffen. Claudia stand rückwärts an die Tür gelehnt, und hielt die Hände vor die Brust. Zwischen den Fingern sickerte Blut hervor.

Als er sah, dass Erna getroffen war, stieß der Rote Baron einen markerschütternden Schrei aus, und rannte mit erhobener Axt auf die Gruppe bei dem Protal zu. Fred gelang es noch, Claudia zu Boden zu stoßen, und sich selbst ebenfalls in Deckung zu begeben, als Carl sie erreichte und die Axt mit einem gewaltigen Schlag im Holz des Portals versenkte. Fred drehte sich um und schoss auf den Baron, drei Schüsse in Folge, und alle trafen. Der Baron taumelte und ging zu Boden.

Es war still. Man hörte nur das leise Wimmern von Claudia. Christoph hob den Kopf und sah sich um. Der Baron lag blutend etwa einen Meter neben ihm, auf seiner anderen Seite lagen Ingrid und Claudia, die stark blutete.

“Fred? Karin?”, flüsterte er.

“Hier, alles klar”, kam Freds Antwort.

Sie erhoben sich langsam. Christoph und Ingrid gingen sofort zu Claudia, und Fred hielt seine Pistole auf den Baron gerichtet.

Claudia lag auf dem Boden in einer Lache ihres eigenen Blutes, und bewegte rythmisch die Lippen, so als würde sie ein Wort wiederholen. Ingrid fühlte Claudias Puls, und sagte dann: “Ihr Puls ist kaum fühlbar. Ich glaube, sie stirbt.” Christoph spürte einen dicken Kloß im Hals. Er rutsche auf dem Bauch an Claudia heran und hielt sein Ohr an ihren Mund. Sie wiederholte das Wort noch einmal, stöhnte dann leise auf und starb.

“Mein Gott…”, sagte Karin. Christoph stand auf und ging zum Baron hinüber. Er nahm seinen Arm und fühlte den Puls.

“Der ist tot”, sagte er schließlich. Hinter ihm fing Ingrid an zu schreien. Sie kam herüber und trat nach dem Baron, immer wieder. Christoph versuchte, sie zu beruhigen, und Fred und Karin schauten nur zu. Schließlich konnte Christoph Ingrid festhalten, und sie klammerte sich an ihn und schluchzte heftig an seiner Brust.

“Wir müssen hier weg”, sagte Fred langsam.

“Wir nehmen eines der Fenster im Speisesaal”, schlug Karin vor, und sie gingen gleich los. Neben der Treppe lag Erna, die Augen weit aufgerissen, und beide Hände am Hals. Das schwarze Kleid, das sie trug, war noch eine Spur dunkler als vorhin und hatte einen nassen Schimmer. Sie erreichten den Speisesaal, und stellten fest, dass man die Fenster nicht öffnen konnte. Christoph wandte sich den Tisch zu, um einen Stuhl zu holen, den er durch das Fenster werfen wollte, als er plötzlich in der Bewegung erstarrte.

“Scheiße”, sagte er, und die Anderen drehten sich auch um. Dort in der Tür zum Speisesaal stand der Baron, mit einem hämischen Grinsen auf den dünnen, blutverschmierten Lippen und mit seiner Axt in den Händen.

“Hattest Du nicht gesagt, dass der tot ist?”, fragte Fred leise.

“Er hatte keinen Puls.”, entgegnete Christoph. “Keinen Puls.”

Der Baron schritt langsam in den Raum hinein, und um den Tisch herum. Sie blieben so weit wie möglich von ihm weg, und gingen auf der anderen Seite um den Tisch herum. Als sie sich etwa in der Mitte des Raumes gegenüber standen, sprang der Baron plötzlich auf den Tisch, und die Gruppe rannte los in Richtung Tür. Der Baron rannte, seine Axt schwingend, über den Tisch hinterher, und als Karin als letzte zur Tür hinausrannte, setzte er mit einem langen Sprung hinterher. Seine Axt traf sie in der Mitte des Rückens und durchtrennte die Wirbelsäule.

Christoph rannte durch die Halle zur Ritterrüstung und griff sich dort die Hellebarde, während Fred in blinder Wut und Panik das Magazin seiner Pistole in den Baron entleerte. Der taumelte zwar bei jedem Treffer rückwärts, zeigte sich ansonsten aber ungerührt.

“Wer glaubt ihr, dass ihr seid, um mich töten zu können?”, brüllte er, und hob seine Axt. In diesem Augenblick hörte Fred von hinten schnelle Schritte durch die Halle kommen, und Christoph, der ihm zurief, dass er in Deckung gehen solle. Fred ließ sich sofort zur Seite fallen, und Ingrid sprang zur anderen Seite. Zwischen ihnen hindurch sprengte Christoph, die Hellebarde wie eine Lanze vor sich herführend, auf den Baron zu, der sich eben noch einem wehrlosen Opfer gegenüber gesehen hatte. Doch bevor er sich neu orientieren konnte, hatte Christoph ihn erreicht, und rammte ihm die Hellebarde in die Brust, rannte weiter mit dem Baron auf der Spitze der Hellebarde, bis er an die Tür des Gesellschaftszimmers kam. Dort stieß er noch einmal mit aller Kraft zu und nagelte den Baron so an die Tür. Dem Baron fiel die Axt aus der Hand, und er griff mit beiden Händen nach unten an die Hellebarde, um sie aus sich herauszuziehen. Christoph griff sofort nach der Axt, holte aus, führte einen kräftigen Schlag gegen den Hals des Barons, der den Kopf vom Körper trennte. Der Kopf flog ein kleines Stück in den Raum hinein, fiel dann zu Boden, rollte noch ein Stück, und blieb dann so liegen, dass Christoph noch sehen konnte, wie sich der Mund öffnete und schloss, und wie die Augen ihn anstarrten.

“Du Arschloch”, sagte er leise, nahm Anlauf, und trat den Kopf quer durch den Raum. Dann blieb er stehen und fing an zu weinen.

Nach einiger Zeit kamen Fred und Ingrid dazu und Ingrid umarmte ihn. Fred sah sich um.

“Wow…”, sagte er schließlich.

Diese Kurzgeschichte ist veröffentlicht unter den Bedingungen der CC BY 4.0