Gunnar Zötl, 03.11.1993

Ein und eine viertel Stunde Phantasie

Es ist eine viertel Stunde vor Mitternacht. Du kommst von einem Treffen mit ein paar Freunden, ihr habt Zwiebelkuchen gegessen und dazu Bier getrunken, und dann hat Klaus diese Geschichte erzählt, von einem Kerl namens Ormeader, der im Wald in den Baumwipfeln wohnt, und sich diejenigen holt, die verwegen genug sind, nachts im Wald herumzulaufen und seinen Namen zu rufen. Eine dämliche Geschichte.

Du verlässt das Dorf, fährst mit dem Fahrrad auf den Feldweg, der Dich in den Wald führt, hinter dem das Dorf liegt, in dem Du wohnst. Es ist kalt, Bodennebel liegt über den Feldern. Der Alkohol in Deiner Blutbahn macht es Dir leicht, die Kälte zu ignorieren. Über Dir die Sterne am Himmel, es ist Vollmond und darum recht hell. Du kannst weit über die Felder bis hin zum Wald sehen, denn der Nebel reicht nicht höher als bis an Deine Knie.

Eine Wolke schiebt sich vor den Mond, vorübergehend wird es wirklich dunkel. Im Wald schreit eine Eule. Du hast schon die Hälfte der Strecke auf den Feldern hinter Dich gebracht, die schwarzen Umrisse des Waldes vor Dir sind deutlich zu sehen. Der Nebel steigt höher und fängt an, Dir die Sicht zu nehmen. Die Feuchtigkeit der Luft legt sich auf Dein Gesicht, Deine Ohren und Deine Kleidung, die Kälte beißt. Die Wolke zieht weiter, aber neue Wolken folgen ihr. Der Wetterbericht hatte Regen angekündigt.

Der Nebel wird dichter. Der Wald vor Dir erscheint nur noch als dunkler Schatten in einer grauen Welt, als letzter klarer Umriss in einer Welt, deren Konturen langsam verschwimmen.

Du denkst Dir, Du könntest die Heimfahrt etwas spannender gestalten, wenn Du jetzt Deine Phantasie etwas bemühst. Hat sich da nicht eben links von Dir im Nebel etwas bewegt? Die Athmosphäre ist toll, Dein Herz fängt schon an, schneller zu schlagen. Die Feuchtigkeit des Nebels kriecht Dir in den Kragen, und schiebt kalte Schauer Deinen Rücken hinunter.

Etwas rennt im Licht Deines Scheinwerfers über den Weg. Ein Hase, denkst Du Dir. Nein, das war kein Hase, denn ein Hase ist nicht besonders spannend. Was immer es war, es hatte lange, dürre Extremitäten, und kein Fell. Schon besser. Da ist es wieder, und jetzt kannst Du einen besseren Blick bekommen. Die Farbe lässt sich nicht ausmachen, aber es ist etwa so gross wie eine Katze, und hat riesige Augen, die im Licht Deines Scheinwerfers rötlich schimmern. Dann ist es auch schon wieder weg.

Du schaust über Deine Schulter zurück, aber Du siehst nur Nebel. Es gibt keinen Weg um den Wald herum, Du musst durch. Es gibt nur noch Dich, den Weg, den Wald, und das, was eben über den Weg gelaufen ist. Und vielleicht Ormeader.

Der Waldrand liegt nun direkt vor Dir, ein leichter Wind kommt auf, der Dir entgegenweht. Gross und bedrohlich ragen die Bäume vor Dir auf, der Weg ist nur ein schmales Band der Sicherheit, und dort, wo er in den Wald hineinführt, sieht es aus wie das offene Maul einer Schlange. Für kurze Zeit wird der Wald Dich verschlucken, so wie der Nebel den Wald verschlucken wird.

Als Du in den Wald hineinfährst, und sich das Maul der Schlange hinter Dir schließt, kommt Leben in das Reich zwischen den Bäumen. Du kannst nicht sehr weit sehen, da der Nebel auch hier sehr dicht ist. Die Bäume drehen sich nach Dir um und strecken ihre Äste nach Dir aus, oder ist es nur der Wind? Obwohl Du weißt, dass das alles nur in Deiner Einbildung passiert, wird Dir mulmig. Das Licht an Deinem Fahrrad erhellt nur einen winzigen Bereich vor Dir, alles andere um Dich herum ist in eine fast greifbare Dunkelheit gehüllt. Einer der Zweige hat Dich fast erreicht, Du zuckst zusammen.

Zwischen den Bäumen, hinter dem Nebel, bewegt sich etwas, folgt Dir etwas. Nur ein Reh, denkst Du Dir, oder ein Fuchs, auf alle Fälle nichts, wovor Du Angst haben müsstest. Schließlich ist das alles nur ein Spiel, ein Streich, den Du Dir selbst spielst. Aber es folgt Dir weiter.

Du hörst in der Ferne Kirchenglocken, die den Beginn der Geisterstunde verkünden. Du denkst an Klaus und seine lächerliche Kindergeschichte von Ormeader, der in den Baumwipfeln haust. Du drehst Dich noch einmal um, aber hinter Dir ist nichts zu sehen. Neben Dir, hinter den Bäumen, raschelt es wieder. Du siehst nichts. Schon wenige Meter von Dir entfernst ist die Nebelwand so dick, dass Du das Gefühl hast, durch Watte zu fahren. Nur ist diese Watte nass und kalt, und greift mit klammen Fingern nach Deinen Beinen, dort, wo die Hose aufhört, und streicht Dir zwischen den Handschuhen und den Jackenärmeln hindurch und an Deinen Armen hoch.

Ein Tropfen fällt auf Dein Gesicht, und noch einer. Es fängt an zu nieseln. Die Nadeln und Blätter der Bäume, welche schon vom Nebel reichlich mit Wasser beladen wurden, werfen ihre Last ab. Rund um Dich herum setzt allmählich ein gleichmässiges Prasseln ein.

Ormeader, diese Geschichte drängt sich immer mehr in den Vordergrund Deines Bewusstseins. Du schaust Dich um, und siehst fast nichts. Ein Märchen, das nur dazu taugt, kleinen Kindern Angst zu machen, aber nicht Dir. Du rufst, Ormeader, und wieder, Ormeader, und noch ein drittes Mal. Nichts rührt sich, natürlich. Es gibt nichts, wovor Du Angst haben müsstest, und außerdem hast Du den Wald gleich hinter Dir. Ein Windstoß fährt durch den Wald und schüttelt Wasser von den Bäumen, das dann mit kräftigen Rauschen rund um Dich herum und auf Dir niedergeht. Etwas im Wald springt auf und rennt, entfernt sich von Dir.

Der Nebel ist jetzt so dicht, dass Du kaum mehr den Boden siehst. Es ist stockdunkel, und Du fährst sehr langsam, um nicht im Graben zu verschwinden. Der Wind streicht Dir durchs Gesicht, und drückt Dir die Feuchtigkeit des Nebels und des Regens durch die Kleidung. Wassertropfen laufen Dir aus den Haaren, übers Gesicht und in den Kragen Deiner Jacke.

Die Baumwipfel bewegen sich im Wind, rauschen, als würde sich jemand dort oben bewegen, von Wipfel zu Wipfel springen und Dir folgen. Das prasseln der Wassertropfen auf dem Waldboden wird lauter. Ein Tier huscht über den Weg, gerade ausserhalb der Reichweite Deines Scheinwerfers. Hat da nicht nackte Haut geglänzt? Nein, natürlich nicht, das war nur Wasser im Fell des Tieres.

In den Wipfeln vor Dir knackt es, etwas fällt Dir ins Genick. Du erschrickst, verlierst nur einen Augenblick die Kontrolle über Dein Fahrrad, das Vorderrad rutscht auf einer freiliegenden Wurzel zur Seite, und Du stürzt in das nasse Gras neben dem Weg. Etwas stacheliges hat sich in Deinen Haaren festgekrallt. Du versuchst, es abzustreifen, kriegst es zu fassen. Ein Fichtenzweig.

Es ist stockdunkel, Du bist nass und hast Schlamm an den Händen und Deiner Kleidung. Du suchst Dein Fahrrad, da liegt es. Dein Knie tut weh. Du hebst Dein Fahrrad auf, schiebst es auf den Weg zurück. Das Licht geht nicht mehr. Trotzdem steigst Du auf und fährst weiter, langsam, und immer auf den Boden sehend. Der Nebel ist dicht, der Himmel hängt voller Wolken, und Deine Finger fühlen sich an als wären sie steifgefronen. Du hast Wasser im linken Schuh.

Im Wald um Dich herum raschelt es wie von tausend Füssen. Es kann aber nicht mehr weit sein, bis Du wieder hier herauskommst. Du bist müde und sehnst Dich nach einer heißen Dusche. Hinter Dir, auf dem Weg, hörst Du ein dumpfes Klopfen wie von Hufen. Du drehst Dich um, siehst nur Nebel, und verlierst fast schon wieder die Kontrolle über Dein Fahrrad. Trotzdem Du nichts siehst, fährst Du jetzt schneller.

Was immer sich im Wald bewegt, es ist überall um Dich herum, und es kommt näher. Hinter Dir klingt weiter dieses dumpfe Klopfen. Fast spürst Du einen heißen Atem im Genick, aber da ist nichts hinter Dir. Deine Phantasie spielt Dir einen üblen Streich, und Du wünscht Dir, Du hättest nicht mit diesem Spiel angefangen. Dein Herz schlägt Dir bis in den Hals.

Da, vor Dir ist der Nebel etwas heller, dort muss der Weg wieder ins Freie führen. Du atmest erleichtert auf, jetzt sind es nur noch wenige Meter. Wieder huscht etwas über den Weg, und noch etwas. Der Weg vor Dir ist plötzlich erfüllt von Leben, kleine glänzende Körper huschen hin und her, und bald ist der Weg ein Durcheinander glänzender, etwa katzengrosser Körper, die scheinbar ziellos umherhuschen, und denen Du ständig ausweichen musst. Du willst nicht stehenbleiben, nicht so kurz vor dem Ziel. Dort ist es heller, der Nebel lichtet sich hier auch ein wenig, sodass sich die Konturen des Waldrandes vor Dir aus dem formlosen Grau schälen.

Die Bäume versuchen ein letztes Mal, Dich festzuhalten, aber das ist nur der Wind, der Dir nichts anhaben kann. Langsam fährst Du zwischen den kleinen Körpern hindurch, die immer noch den Weg bevölkern. Gleich wirst Du die Grenze des Waldes passieren, wirst diese dunkle, feuchte Welt der Geräusche hinter Dir lassen, und über all das lachen, was Deine Phantasie hier mit Dir gemacht hat.

Du lächelst, geschafft. Du hörst in der Ferne Kirchenglocken, die das Ende der Geisterstunde verkünden. Du denkst noch einmal an Klaus und seine lächerliche Kindergeschichte von Ormeader, der in den Baumwipfeln haust, spürst noch einmal den heißen Atem im Genick, und hörst die heisere, erdige Stimme an Deinem Ohr, die sagt:

“Du hast mich gerufen?”

Diese Kurzgeschichte ist veröffentlicht unter den Bedingungen der CC BY 4.0