Gunnar Zötl, 08.12.1993

Ein Hauch von Tod

Ich will Euch eine Geschichte erzählen, die mir vor ein paar Jahren passiert ist. Zwei Wochen vor dem Ereignis, von dem ich gleich berichten werde, ist meine Freundin Simone an einer merkwürdigen Krankheit gestorben, die keiner der Ärzte, die sie untersucht hatten, einzuordnen wusste. Sie wurde immer matter und schwächer, konnte schließlich nicht einmal mehr einen Löffel selbst halten, und starb dann. Tatsächlich waren von dem Augenblick, als sich die ersten Anzeichen der Krankheit zeigten, bis zum Augenblick ihres Todes nicht einmal 5 Tage verstrichen, die Ärzte vermuteten allerdings, dass sie schon länger infiziert gewesen sein musste. Ich selbst bin damals auch darauf untersucht worden, ob ich mich infiziert hatte, da es aber nicht sicher war, wie sich eine Infizierung äußerte, bevor die Krankheit dann wirklich ausbrach, und der auslösende Faktor auch noch nicht gefunden worden war, probierten die Ärzte dies und das, nahmen mir so ziemlich alle Proben ab, die mein Körper hergab, und teilten mir schließlich mit, dass sie annahmen, dass ich mich nicht infiziert hatte.

Es war spät im Herbst. Draußen war es schon reichlich dunkel und kalt, ein schneidender Wind blies und es regnete. Drinnen sass ich in einem Sessel und versuchte zu lesen, während trübe Gedanken in meinen Kopf drängten und die Buchstaben vor meinen Augen verschwinden ließen. Ich dachte an den Tod und an all die Menschen, die mir derzeit ihr Beileid bezeugten, indem sie mir erzählten, dass das Leben weitergehe, auch ohne Simone. Diese Menschen, die meine Trauer nicht verstanden, und versuchten, mich mit klugen Sprüchen abzuspeisen, nannten sich meine Freunde. Damals habe ich erfahren, dass kaum ein Mensch wirkliche Freunde hat, da, wie es mein Bruder ausgedrückt hatte, Freunde diejenigen sind, die auch dann noch für Dich da sind, wenn alle anderen schon gegangen sind. Diese Menschen, die sich meine Freunde nannten, waren alle gegangen, und hatten mich mit meiner Trauer allein gelassen. Obwohl sie gelegentlich vorbeikamen, waren sie nicht für mich da, sondern für sich selbst, um ihr Gewissen zu beruhigen. Und so ging ich fast täglich auf den Friedhof, um dort allein zu sein, denn das Alleinsein war mir erträglicher als die Gesellschaft meiner Freunde.

Ich schlug das Buch zu. Ich hatte in der letzten Stunde keine Seite geschafft, ständig waren meine Gedanken mir entglitten und hatten mich an Orte gebracht, die ich am liebsten für immer vergessen hätte. Ich stand auf und ging in die Küche, um mir dort etwas Rum zu holen, mit dem ich mich in den Schlaf trinken wollte, als es an der Tür klopfte. Vor der Tür stand ein ganz in schwarz gekleideter Mann, der sich als Vaya vorstellte, und der mir sagte, dass er mit mir reden wolle. Er war fast eineinhalb Köpfe größer als ich und so dürr, dass ich dachte, der Wind würde ihn in der Mitte auseinanderbrechen können, und er zitterte am ganzen Körper. Sein Gesicht war bleich und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und zeigten dunkle Ringe, und die ganze Erscheinung vermittelte den Eindruck eines Mannes, der seit Tagen nicht mehr geschlafen hatte. In seinem Blick lag eine tiefe Melancholie, und vor allem dieser Eindruck war es wohl, welcher mich dazu veranlasste, ihn trotz der dürftigen Erklärung, die er für sein Hiersein gegeben hatte, hereinzulassen.

Ich führte ihn ins Wohnzimmer, wo ich eben gesessen hatte, und bot ihm einen Platz an. Ich ging schnell in die Küche, um uns etwas warmes zu trinken zu machen, da auch mir plötzlich recht kühl war. Es schien fast, als habe dieser Mann, der sich Vaya genannt hatte, etwas von der Kälte von draußen mit hereingebracht.

Als ich zurückkam, saß Vaya in einem Sessel, und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Ich lächelte ihn an, sogut es ging, aber er verzog keine Miene. Ich erzählte ihm, dass ich etwas Wasser aufgestellt hatte, um einen Tee oder etwas ähnliches zu machen, und fragte ihn, ob er denn auch etwas wolle. Er schien einen Augenblick zu überlegen, bevor er schließlich sagte: “Ja, gern”.

Ich musterte meinen seltsamen Besucher aufmerksam, aber trotzdem wollte es mir nicht gelingen, sein Gesicht genau zu erfassen. Es war als würde ich jeden seiner Züge sofort vergessen, sobald ich meine Aufmerksamkeit einem anderen Detail seines Gesichts zuwendete, und dann waren da diese Augen, der einzige Teil seines Gesichtes, den ich mir merken konnte, und der auch immer wieder meine Blicke anzog. Auch der Rest seiner Körpers schien mit diesem Zauber vor den Augen neugieriger Betrachter geschützt, denn ich weiß nur, dass er schwarz trug, und dass er sehr mager war. Schließlich begann er zu reden.

Er sprach leise und bedächtig, und seine Stimme klang, als würde sie aus einer anderen Zeit an mein Ohr geweht, fast wie ein Echo. Er sprach über Tod und Trauer, über Menschen, die man an die Ewigkeit verlor, und solche, die zurückblieben, um das Andenken an die Verstorbenen weiterzutragen, solange, bis sie selbst starben. Er erzählte mir von seiner Frau, und davon, wie sie bei einem Unglück ums Leben gekommen war. Während der ganzen Zeit, die er sprach, schien sich sein Gesichtsausdruck nicht zu verändern, und als der Teekessel anfing zu pfeifen, war ich fast froh, dass ich eine Ausrede hatte, die mir erlaubte, seinem durchdringenden Blick für einen Augenblick zu entkommen.

Ich machte in der Küche einen Tee, während ich über das nachdachte, was ich gerade gehört hatte. Dieser Mann hatte nach dem, was er erzählt hatte, ziemlich genau das Gleiche durchgemacht, wie ich jetzt. Und trotzdem seine Erlebnisse ziemlich deprimierend gewesen waren, fühlte ich mich fast ein wenig erleichtert durch die Gewissheit, dass es auch anderen Menschen so ging wie mir. Ich fragte mich, wie lange das, wovon er gesprochen hatte, wohl zurücklag, denn bei ihm klang es so, als wäre das alles schon sehr lange her.

Als ich mit dem Tablett mit dem Tee und den Bechern und einer Flasche Rum wieder in das Wohnzimmer kam, blätterte der Fremde gerade in dem Buch, welches ich zu lesen versucht hatte. Es handelte sich dabei um eine Abhandlung über Altiranische Mythologie, und fast war mir so, als hätte kurz der schwache Schatten eines Lächelns auf seinem Gesicht gelegen, bevor er das Buch zuklappte und wieder auf den Tisch legte, auf dem ich es hingelegt hatte.

Ich schenkte uns beiden ein wenig Tee ein, goss mir ein wenig Rum dazu und da er nicht widersprach, schenkte ich auch ihm ein wenig in seine Tee. Er nahm seinen Becher und trank einen kräftigen Zug, bevor er weitersprach. Ich setzte meinen Becher auch an den Mund, doch als ich versuchte, von dem Tee zu trinken, stellte sich dieser als so heiß heraus, dass ich fast aufgeschrien hätte, als er meine Oberlippe berührte. Vaya sprach unterdessen weiter, und war mittlerweile bei der allgemeinen Schlechtigkeit der Welt angekommen.

“Tod und Verwesung sind überall, ausgelöst durch die Menschen, die diese Welt bewohnen”, sagte er. “Nicht nur, dass die Körper sterben, die die Seelen der Menschen beherbergen, die Seelen selbst sind zumeist schon lange vor den Körpern tot. Eure Kirche predigt ein Leben nach dem Tod, aber für die allermeisten wird es dieses nicht geben. Der Tod ist für die meisten Menschen das Ende, weil sie das, was die Pfaffen die unsterbliche Seele nennen, schon lange vor ihrem Körper getötet haben. Das Problem ist den Menschen bekannt, und sie haben ihm sogar einen Namen gegeben: Abstumpfung nennen sie das. Sie stumpfen ab gegen alles Unrecht in dieser Welt, und sie klammern sich an ihrem Leben fest, weil sie tief in ihrem Inneren wissen, dass dies das einzige Leben ist, welches ihnen geblieben ist.”

Da haben wir es, ein Sektenpriester, dachte ich. Während er redete, bewegte er sich kaum, saß auf dem Sessel als wäre er nur ein unbeteiligter Beobachter und nicht derjenige, der diesen Vortrag über tote Seelen hielt. Aber obwohl ich durchaus nicht vorhatte, mich bekehren zu lassen, war ich neugierig darauf, was dieser merkwürdige Mann mir noch zu sagen hätte, also nutzte ich eine seiner Redepausen dazu, seinen Becher aufzufüllen und auch mit ein wenig Rum nachzuwürzen, wobei ich dieses mal ein wenig mehr dazugoss als vorher, in der vagen Hoffnung, diesen Vaya betrunken möglicherweise leichter loswerden zu können.

“Die Welt ist finster, das Licht ist erloschen”, sagte er schließlich, und fast im selben Augenblick ertönte von draußen ein mächtiger Donnerschlag, und das Licht ging aus. “Das haben wir gleich mit der Finsternis”, sagte ich, und stolperte los um nach den Kerzen zu suchen, die ich für solche Fälle in meiner Wohnung hatte. So etwas war schon früher passiert, und darum hatte ich die Kerzen so deponiert, dass ich sie auch ohne Licht leicht finden konnte. Da waren sie auch schon, und dabei eine Schachtel Streichhölzer.

“So,” sagte ich, “und schon bringe ich wieder Licht in die Welt der Finsternis”, und konnte mir dabei ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Ich stellte eine Kerze in einem Halter auf den Tisch und zündete sie an. In dem flackernden Kerzenlicht sah mein Gast noch unwirklicher aus als zuvor, und ein leichter Schauer schob sich über meinen Rücken. Er blickte in die Flamme. “Ja, so einfach könnte es sein. Aber sieh, was passiert, wenn mein Atem dein Licht streift”, sagte er, beugte sich vor und hauchte die Kerze an. Die Flamme zuckte kurz, und erlosch dann, und wir beide saßen wieder im Dunklen. Der Geruch gelöschter Kerzen zog durch den Raum als Vaya sagte: “Dein Licht ist nicht beständig. Die Finsternis schon.”

Der Regen prasselte an die Fenster, und und der Ferne konnte man weitere Donner grollen hören. Fast schon ein wenig ärgerlich zündete ich die Kerze wieder an. Vaya hatte sich wieder in seinem Sessel zurückgelehnt, die Fingerspitzen aufeinandergelegt, und sah mich an. “Ich bin alt.”, sagte er. Wie alt, das vermochte ich nicht zu schätzen, er konnte wohl irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahren alt sein, genausogut konnte er aber auch schon viel älter sein. “Man kennt mich fast auf der ganzen Welt, aber ich habe überall verschiedene Namen. Diese Namen habe nicht ich mir gegeben, sondern die Menschen, trotzdem benutze ich sie hin und wieder.” Wieder beugte Vaya sich vor, und sah mir tief in die Augen, und als er sprach, erschien mir sein Atem so kalt wie seine Worte: “Ich bin der Tod”

Ich wollte aufstehen und weglaufen, aber meine Glieder waren wie gelähmt. Der Fremde lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah mich nur an. Ich hatte einen Mörder in mein Haus gelassen, und wenn ich nach dem urteilen wollte, was er mir erzählt hatte, so musste er dazu noch völlig wahnsinnig sein. Ich musste etwas unternehmen, schließlich hatte mich die Trauer noch nicht so weit getrieben, dass ich selbst schon bereit gewesen wäre zu sterben. Die Kerze warf unheimliche Schatten an die Wände und auf das Gesicht meines Gastes, und das Geräusch des Regens, der an mein Fenster klopfte, schien mit einem Male unerträglich laut.

“Meine Zeit ist um,” sagte er, ohne den Blick von mir zu lösen. Ich hatte vor langer Zeit einmal einen Film über Schlangen gesehen, und besonders war mir eine Szene im Gedächtnis haften geblieben, in der eine Schlange auf einen Frosch zukroch, und dieser vor Angst gelähmt war, sodass sie ihn nur noch zu verschlingen brauchte. Ich fühlte mich jetzt, als sei ich dieser Frosch, und Vaya die Schlange. Als von dem Frosch nur noch das linke Bein aus dem Schlund der Schlange ragte, und dieser noch ein letztes Mal quakte, war ich zur Toilette gerannt und hatte mich übergeben.

“Wollen sie noch einen Tee?”, hörte ich mich fragen, und zu meiner großen Verblüffung antwortete Vaya diesmal sofort mit einem Ja, sodass ich allen Mut und meine verbliebene Kraft zusammennahm, um ihm noch etwas Tee und diesmal sehr viel Rum einzuschenken. Ich zitterte heftig, und hätte beinahe die Kanne fallengelassen, und als ich zur Flasche mit dem Rum griff, befürchtete ich für einen Augenblick, er könnte meine Absicht durchschaut haben, doch als ich aufsah, hatte er sich wieder mein Buch genommen und blätterte darin herum. Meine Knie waren unendlich weich, und mein Magen rebellierte heftig, und ich befürchtete, dass ich, wenn er jetzt käme, um mich umzubringen, nicht in der Lage sein würde, zu flüchten.

Aber er kam nicht. Statt dessen legte er das Buch beiseite, nahm er einen kräftigen Schluck aus dem Becher und sah mich ruhig an. Meine Gedanken rotierten, überschlugen sich, und ich konnte mich auf keinen einzelnen von ihnen konzentrieren. Ich wusste, dass ich mich würde beruhigen müssen, da sonst jede Hoffnung auf Flucht in dem Wirrwar, welches im meinem Kopf tobte, untergehen musste. Ich hoffte, dass ihn der Alkohol, den er bereits zu sich genommen hatte, derart benebelt hätte, dass er mir nicht ohne weiteres würde folgen können, wenn ich mein Heil in der Flucht suchen sollte.

Vaya fing wieder an zu reden. Er behielt mich dabei fest im Blick, sodass es mir unmöglich war, auch zu blinzeln, ohne dass er es gesehen hätte. Vom Alter sprach er, vor allem von seinem, und von all dem Tod und dem Verderben, dass er gesehen und natürlich auch gebracht haben wollte. Er sprach leise und monoton, und langsam verschwand der Sinn aus seinen Worten und ich hörte nur noch auf seine Stimme, die für mich klang wie ein beruhigender Gesang ohne Melodie. Meine Angst ließ nach, und in meinem Kopf wurde es still. Die Flamme der Kerze schien größer zu werden, bis sie schließlich mein gesamtes Sichtfeld ausfüllte, und ich meinen Gast nicht mehr sehen konnte. Ich war jetzt allein mit den seltsam beruhigenden Tönen und dem warmen Licht der Kerze, und nach der Angst wich auch die Trauer aus meinem Herzen. Vayas Stimme schien aus keiner bestimmbaren Richtung mehr zu kommen, ebenso wie das Licht der Kerze, welches jetzt überall um mich herum leuchtete, und so die Schatten tilgte, die es selbst erzeugt hatte.

Ich musste eingeschlafen sein, denn als mich ein heftiger Donnerschlag aus meinen Träumen riss, stand der Fremde vor mir, hatte sich zu mir heruntergebeugt und seine Hände auf meine Schultern gelegt. Ich erschrak heftig und stieß ihn mit einer reflexartigen Bewegung von mir, wodurch er rückwärts gegen den Tisch taumelte, stürzte, und mit dem Kopf auf das kleine Schränkchen schlug, welches neben dem Sessel auf der anderen Seite vom Tisch stand. Wie von Sinnen sprang ich auf und setzte ihm nach. Als ich bei ihm ankam, versuchte er, sich aufzurichten, und drehte sein Gesicht zu mir. Ich packte ihn am Kragen und schlug ihn mit dem Kopf auf den Boden, und dann noch einmal und nocheinmal, ich weiß nicht mehr, wie oft. Mir war schwarz vor den Augen, oder er hatte die Kerze bei seinem Fall umgestossen, und ich hörte die ganze Zeit seine Worte, wie er sagte: “Ich bin der Tod”. Ich muss dann irgendwann ohnmächtig geworden sein.

Als ich wieder zu mir kam, wusste ich zunächst nicht, wo ich mich befand. Ich hatte in einer recht krummen Haltung dort gelegen, so dass mir jetzt einiges wehtat, aber im Raum waren einige Lampen an. Als ich dem Mann dort neben mir liegen sah, erinnerte ich mich wieder. Ein schmales Rinnsal seines Blutes floss aus seiner Nase, und seine Augen waren offen und starrten mich an, es sah fast so aus als würde er lächeln. Ich kroch zu ihm, jedoch nur, um festzustellen, dass er tot war. Sein Herz schlug nicht mehr, und sein Kopf lag in einer Lache seines Blutes. Ich hatte ihm den Schädel eingeschlagen.

Fast eine halbe Stunde sass ich da, bevor ich mich entschloss, die Polizei anzurufen. Der Beamte am anderen Ende der Leitung machte den Eindruck, als hätte ich ihn bei irgendetwas sehr wichtigem gestört, aber als ich ihm dann erzählte, um was es sich handelte, war er sofort hellwach. Er verlangte meine Personalien und meine Adresse, und sagte dann, dass er sofort einen Wagen zu mir schicken würde.

Zwei nasse Polizisten standen vor meiner Tür, als ich öffnete, und ich führte sie sofort an den Ort des Geschehens. Ich blieb an der Tür zum Wohnzimmer stehen, weil ich keinen Wert darauf legte, mir den Fremden, den ich getötet hatte, noch einmal anzusehen. Die beiden Polizisten gingen weiter. “Er liegt direkt hinter dem Sessel”, sagte ich ihnen, aber trotzdem standen beide dort im Zimmer und schauten sich über den ganzen Boden um. Ich wunderte mich etwas darüber, denn ich hatte erwartet, dass sie sich zürst einmal die Leiche ansehen. Da drehte sich einer der beiden zu mir um und fragte: “Finden sie das sehr witzig?”

Ich stürmte in das Zimmer, um ihnen Vayas Leiche zu zeigen, aber als ich am Sessel ankam, war er nicht da, nicht einmal ein Fleck seines Blutes war dort am Boden. Die beiden Polizisten sahen mich mit finsterer Miene an, doch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er war dort gewesen, das konnte ich beschwören. Ich beschwor sie, mir zuzuhören, mit mir nach ihm zu suchen, aber sie hatten sich schon der Tür zugewandt. “Ich kann ihnen versichern, ich finde das nicht witzig.”, sagte einer der beiden, bevor sie die Tür hinter sich schlossen. Ich blickte fassungslos auf die Stelle, wo noch vor wenigen Minuten ein toter Mann in seinem Blut gelegen hatte. Ein leiser Lufthauch strich an meinem Gesicht vorbei. Das kommt von der Tür, dachte ich beiläufig, als ich unter dem Sessel ein Glitzern bemerkte. Ich kniete mich hin und sah unter den Sessel. Dort lag ein Amulett an einer Kette. Ich hob es auf.

Das Amulett war völlig schwarz mit einigen glänzenden Stellen, und es war etwas eingraviert, das man aber nicht erkennen konnte. Es sah aus wie angelaufenes Silber, und so holte ich mein Silberputztuch aus der Küche und fing an, das Amulett zu polieren. Nach einigen Minuten war es weitgehend wieder blank, nur noch die Linien der Gravur waren schwarz. Auf der einen Seite des Amulettes war eine Darstellung einer Landschaft eingraviert, über die ein kräftiger Wind hinwegzog, welcher Bäume knickte und ihnen die Blätter abriss, um sie vor sich her zu treiben. Auf der anderen Seite war eine stilisierte Darstellung eines Gesichtes, bei welchem der Mund wie zum Ausblasen einer Kerze gespitzt war.

Das alles ist jetzt, wie gesagt, schon einige Jahre her. Ich habe wegen der Sache noch eine Anzeige wegen groben Unfugs oder etwas ähnlichem bekommen, daraus ist aber nichts geworden. Manchmal im Herbst, wenn es regnet und stürmt, schaue ich aus dem Fenster, und glaube, dass er noch da ist. Ich bin jetzt umgezogen, denn in der Wohnung wollte ich nicht bleiben. Ich bin auch gleich in eine andere Stadt gezogen, damit mir die Menschen, die sich meine Freunde nannten, nicht mehr mit ihren selbstsüchtigen Belanglosigkeiten meine Zeit stehlen konnten. Ich trauere immer noch um Simone, denn außer der Trauer ist mir nichts von ihr geblieben, und ich werde ihr Andenken weitertragen, solange ich kann. Das Amulett habe ich aufgehoben. Mit den Jahren habe ich festgestellt, dass Vaya irgendwie doch recht hatte, die Welt ist finster, das Licht ist erloschen, und um mich herum sterben Menschen. Aber ich kann immer noch meine Kerze anzünden, um etwas Licht in diese Welt der Finsternis zu bringen. Ja, so einfach könnte es sein. Doch seht, was passiert, wenn mein Atem dieses Licht streift.

Diese Kurzgeschichte ist veröffentlicht unter den Bedingungen der CC BY 4.0