Gunnar Zötl, 08.05.1995

Die kleine Flamme Fürio

Es war einmal, oder ist noch, wer vermag das zu sagen, in einem Hochofen ein kleines Land mit Namen Flammern, dessen Bewohner lauter Flammen waren. Dort lebten große und kleine, dicke und dünne, blaue, rote und gelbe Flammen, und obwohl sie so unterschiedlich aussahen, hatten sie doch eines Gemeinsam: sie alle waren heiß. Und so war es natürlich auch in diesem Land sehr heiß, und auch sehr hell. So hell war es, dass man dort vor lauter Helligkeit nicht richtig zu schlafen vermochte, und so heiß, dass außer den Flammen dort nichts sein konnte.

Einer der Bewohner dieses Landes war die kleine Flamme Fürio. Sie war noch sehr klein, denn sie brannte erst seit recht kurzer Zeit. Außerdem war sie ständig müde. Das war sehr ungewöhnlich für eine Flamme, denn normalerweise brennen Flammen unermüdlich, bis ihnen die Nahrung ausgeht, und in Flammern gab es immer reichlich Nahrung Nahrung, und so brannten alle unermüdlich, bis auf den kleinen Fürio.

“Fürio”, sagte sein Vater des Öfteren, “Du kannst hier nicht schlafen! Wenn Du schlafen willst, dann musst Du Flammern verlassen, denn hier ist es zu hell und zu heiß. Hier kannst Du nur brennen.” Aber Fürio war viel zu müde, um Flammern zu verlassen. Außerdem hatte er ja so gar keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, schließlich war er hier entzündet worden, und hatte seitdem keine größere Entfernung zurückgelegt, weil ihm das immer viel zu anstrengend gewesen war.

Eines Tages kam sein Onkel Brenzel zu Besuch. Onkel Brenzel war immer sehr gern gesehen, denn er hatte schon weite Reisen durch Flammern unternommen und konnte so manche lustige Geschichte erzählen. Die Geschichte, die er diesmal erzählte, war allerdings sehr seltsam. Er berichtete von einem Loch in der äußeren Hülle von Flammern, durch das diese seltsamen schwarzen und kalten Dinger nach Flammern hereingeflogen kamen, von denen sie hier alle lebten. Und wenn einige von diesen schwarzen Dingern nach Flammern hereingekommen waren, dann schloss sich das Loch wieder. Und dass einige Flammen nach draußen gesprungen seien, habe er gesehen. Seltsamerweise hatte Fürio während dieser Geschichte kaum gegähnt, sondern im Gegenteil sehr gespannt den Erzählungen seines Onkels zugehört. Also gab es ein Draußen, und wenn sein Vater recht hatte, konnte man dort schlafen. Ach, zu schlafen, das war Fürios größter Wunsch.

Als sein Onkel nach einiger Zeit Vorbereitungen traf, sich wieder auf den Weg zu einem weiteren Abenteuer zu machen, ging Fürio zu ihm und bat ihn, mit ihm zu dem Loch zu brennen. Onkel Brenzel lehnte das zunächst ab, doch als Fürio fast eine halbe Stunde lang gebettelt und gefleht hatte, ohne dabei ein einziges Mal zu gähnen, gab er sich schließlich geschlagen. Er bat sich jedoch aus, dass Fürios Eltern damit einverstanden sein sollten. Also ging Fürio zu seinen Eltern, und wieder bettelte und flehte er, dass sie ihn gehen lassen sollten, und schließlich sagte sein Vater zu seiner Mutter, dass es ihm wahrscheinlich gut tun würde, ein wenig mit Onkel Brenzel in Flammern herumzuziehen. Als Fürio das hörte, strahlte er gleich ein wenig heller, doch seine Mutter nahm einen leichten Braunton an. Aber Fürio war so froh, mit Onkel Brenzel brennen zu dürfen, dass er das gar nicht wahrnahm.

Gleich am nächsten Tag machten sich Fürio und Onkel Brenzel auf den Weg, und obwohl Fürio sehr aufgeregt war, wurde er doch schon wieder müde. Kaum waren sie ein paar hundert Kokel weit gekommen, da wollte er schon eine Pause einlegen. Aber Onkel Brenzel war nicht sehr nachgiebig, wenn es darum ging, einen Ort zu erreichen, zu dem er unterwegs war. Er sagte: “Wenn Du eine Pause machen willst, dann mach eine Pause. Ich werde aber weitergehen, und Du musst dann sehen, wie Du mich einholst”. Und da Fürio sich allein sicher verlaufen würde, schleppte er sich widerwillig seinem Onkel hinterher.

Onkel Brenzel hatte vor der Abreise noch mir Fürios Vater gesprochen, und dieser hatte ihm gesagt, dass er Fürio ruhig ein wenig fordern solle, vielleicht wäre das gut gegen die ständige Müdigkeit der kleinen Flamme. Aber davon wusste Fürio nichts, und bald fing er an, vor sich hinzuschimpfen. “Hätte ich mich bloß nie darauf eingelassen”, murmelte er leise, darauf bedacht, dass Onkel Brenzel ihn nicht hören konnte. “Ich könnte jetzt schön zu Hause liegen und faulenzen”. Aber da er keine andere Wahl hatte, brannte er murmelnd und gähnend hinter seinem Onkel her.

Endlich am dritten Tag, als er vor lauter Müdigkeit schon ganz blau war, blieb Onkel Brenzel stehen, und drehte sich zu ihm um. “Hier ist es”, sagte er, “und dort oben wird das Loch aufgehen. Wir müssen hier darauf warten.” Fürio ließ sich dankbar niedersinken, und gähnte erst einmal herzhaft. Sein Vater hatte recht, hier war es viel zu hell zum Schlafen, und das, wo er doch so müde war. Also blieb er wach und wartete zusammen mit seinem Onkel darauf, dass das Loch sich öffnen würde. Den Plan, Flammern durch das Loch zu verlassen, hatte er schon vor vielen Kokeln aufgegeben, jetzt sehnte er das Ereignis nur noch herbei, weil Onkel Brenzel ihn danach nach Hause bringen würde, und er sich dort erst einmal viele Tage lang von dieser Strapaze erholen könnte.

Und dann passierte es. Weit über ihnen öffnete sich ein Loch in eine andere Welt. Hinter diesem Loch sah es dunkel aus, und für einen Augenblick strich ein Hauch kühler Luft über Fürio und Brenzel, die beide fasziniert zu dem Loch starrten. Einen Augenblick später kamen sie hereingeflogen, diese kalten schwarzen Dinger, von denen sich ganz Flammern ernährte, schlugen auf den Boden auf und versprengten die dort befindlichen Flammen. Und dann sah Fürio auch die anderen, die Flammen, die auf das Loch zustrebten, um nach draußen zu gelangen, und noch bevor Onkel Brenzel ihn aufhalten konnte, war auch Fürio unterwegs zu dem Loch.

Brenzel brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wohin Fürio unterwegs war, und kaum war es ihm klargeworden, da machte er sich auch schon auf, um Fürio zurückzuholen. Aber dieser hatte das Loch schon bald erreicht, und glitt über den Rand hinweg nach draußen, und noch bevor Brenzel auch nur die Hälfte der Strecke zum Loch zurückgelegt hatte, schloss sich das Loch wieder, und Fürio war weg.

Draußen war es wunderbar, angenehm kühl und dunkel. Fürio schwebte ein wenig dahin, als ihm klarwurde, dass er schrumpfte. Natürlich, er hatte keine Nahrung, und mit dem Schrumpfen kam die Müdigkeit wieder, und stärker als jemals vorher. Aber Fürio wollte noch nicht schlafen, er wollte sich die Wunder dieser neuen Welt anschauen. Und eben bevor er völlig erlosch, traf er auf etwas Weiches, von dem er sofort zu essen anfing. Noch nie hatte er solche Nahrung gehabt, diese war hauchdünn, und sehr hell, mit lauter dunklen Punkten und Strichen darauf, und sie war so einfach zu verzehren, dass er immer mehr und mehr nahm, und dabei immer größer und wacher wurde. Er wuchs und wuchs, und in wenigen Augenblicken war er größer, als seine Eltern oder sein Onkel es jemals sein würden.

Doch er musste feststellen, dass diese Nahrung nicht nur leicht aufzunehmen war, sondern auch viel schneller schwand als seine übliche Nahrung. Kaum hatte er sich über seine Größe freuen können, da war sie schon aufgezehrt, und er schrumpfte wieder, noch schneller als er gewachsen war, und bald war er nur noch ein kleines, blaues, sehr müdes Flämmchen am Rande einer verbrannten Zeitung, traurig darüber, dass sich der sehnlichste Wunsch seines Lebens in Flammern hier draußen so schnell erfüllt hatte. Etwas mehr Zeit hätte er hier gern gehabt. Doch die Müdigkeit erfüllte ihn so schnell, dass er sich darüber kaum Gedanken machen konnte, und einen Augenblick später war er eingeschlafen, und von der Zeitung stieg nur noch eine dünne Rauchfahne auf.

In Flammern, direkt unter dem Loch, das in die andere Welt führte, saß Onkel Brenzel und wartete darauf, dass sich das Loch wieder öffnete. Er war fest entschlossen, hier auf Fürio zu warten, und wenn es bis in alle Ewigkeit dauern sollte.

Diese Kurzgeschichte ist veröffentlicht unter den Bedingungen der CC BY 4.0