Gunnar Zötl, 25.10.1994

Der Mann, der Angst vor Pfützen hatte

Er hatte die Augen offen. Er hatte die Augen immer offen beim Duschen. Er hatte zwar nie an das geglaubt, was ihm seine Mutter damals immer erzählt hatte, dass sich unter Wasseroberflächen gelegentlich Löcher befanden, die so tief waren, dass man durch sie geradewegs in die Hölle fiel, aber sicher ist sicher. Sollte es die Löcher doch geben, so konnte er sie rechtzeitig erkennen, wenn sie sich öffneten, und zur Seite springen. Aber er hatte noch nie eines der Löcher gesehen.

Seine Mutter hatte ihm damals viel über die Hölle erzählt, und über die Löcher, die sich unter den Wasseroberflächen befanden. Sie wollte selbst gesehen haben, wie Leute in Pfützen verschwunden waren. Das war natürlich barer unsinn, aber irgendwie hatten diese Geschichten, von denen er in seiner Kindheit so viele gehört hatte, sich in seinem Unterbewusstsein festgesetzt, und er mied Wasseroberflächen, wann immer es ging.

Es regnete, als er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Die Straße war ganz nass, aber er musste ja nur bis zu seinem Auto laufen. Um die große Pfütze, die sich in der Mitte der Straße gebildet hatte, lief er außen herum. Nicht dass er wirklich an die Löcher glaubte. Und schließlich war seine Mutter wegen ihrer Wahnvorstellungen auch in eine geschlossene Anstalt eingewiesen worden, als er 12 Jahre alt gewesen war.

Und selbst, wenn es doch stimmte, hatte er nichts zu befürchten. Er war bei seinem Onkel und seiner Tante aufgewachsen, nachdem seine Mutter eingewiesen worden war, und war im Glauben erzogen worden. Er ging regelmäßig zur Kirche, und er glaubte wirklich. Also, warum sollte er in die Hölle kommen? Nur Ungläubige und Sünder kamen in die Hölle.

Er stieg in sein Auto, und fuhr los. Er war, wie üblich, fünf Minuten zu spät im Büro, aber niemand regte sich darüber mehr auf. Nicht nach so vielen Jahren. Er setzte sich auf seinen Platz, und wie immer sah er dabei die Sekretärin des Chefs, die gerade Wasser für den Morgenkaffee holte. Als sie an seinem Platz vorbeiging, stolperte sie über seine Aktentasche, und verschüttete dabei das Wasser. Es bildete eine große Pfütze, die den ganzen Platz zwischen den Schreibtischen einnahm, und lief auch langsam unter die Schreibtische lief. Die Sekretärin stand schimpfend mitten in der Pfütze, während er amüsiert darüber nachdachte, was sie wohl für ein Gesicht machen würde, wenn sich der Boden unter Ihr öffnen, und sie geradewegs in die Hölle brausen würde. Als sich das Wasser seinen Füßen näherte, ging er um einen Lappen zu holen.

Zum Mittagessen ging er zum Schnellimbiss gegenüber, wie schon seit vielen Jahren. Es regnete immer noch, und er wich den Pfützen aus, aber natürlich nur, um seine Schuhe zu schonen. Er hatte sich schon lange Überschuhe kaufen wollen, aber irgendwie war er noch nicht dazu gekommen. Natürlich hatte er keine Angst vor den Geschichten über Löcher unter den Pfützen, und, wie um sich dies zu Beweisen, trat er mitten in eine der kleineren Pfützen hinein, und es passierte nichts. Natürlich nicht. Außer natürlich, dass seine Schuhe nass wurden, weswegen er die anderen Pfützen weiterhin mied.

Seine Mutter hatte gesagt, dass die Pfützen deswegen am gefährlichsten waren, weil das Wasser darin schmutzig und undurchsichtig war. Niemand konnte auf den Grund einer Pfütze sehen, und die Ursache dafür sei nicht selten, dass die Pfütze keinen Grund habe. Das war natürlich Unsinn, aber sie hatte daran geglaubt. Er glaubte das nicht, vielmehr, er wusste, dass es nicht so war, dass Pfützen bloß aus Wasser bestanden, das sich in Vertiefungen des Bodens gesammelt hatte. Da war überhaupt nichts Geheimnisvolles dabei.

Als er sich auf den Rückweg zur Arbeit machte, sah er eine Telefonzelle. Eigentlich musste die Telefonzelle schon viele Jahre dort gestanden haben, aber heute fiel sie ihm zum ersten mal auf. Das brachte ihn auf die Idee, dass er seine Freundin anrufen könnte, um mit ihr zu reden. Er hatte sich vor kurzem mit Ihr gestritten, und er hoffte, dass er die Sache bereinigen konnte, wenn sie ihm nur zuhören würde. Sie war so verdammt störrisch, aber er wollte es versuchen. Also ging er in die Telefonzelle.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fing es an, stärker zu regnen. Er stand in der Telefonzelle, und sah nach draußen, wo es nass war. Er sah, wie sich in kürzester Zeit die kleinen Pfützen von eben in kleine Seen verwandelten, und er genoss es, dass er hier in dieser Telefonzelle stand und trocken blieb. Dass er eigentlich seine Freundin hatte anrufen wollen, vergaß er darüber völlig.

Er hatte fast zehn Minuten in der Telefonzelle gestanden, und dem Treiben des Wetters zugesehen, als er bemerkte, dass seine Füße nass wurden. Er blickte nach unten, und sah, dass in der Telefonzelle das Wasser schon bis an seine Knöchel stand. Das war sehr merkwürdig, denn draußen war das Wasser nicht so hoch, genau genommen hatte der Regen schon wieder nachgelassen. Er wollte die Tür öffnen, um die Telefonzelle zu verlassen, aber sie klemmte, und ließ sich nicht bewegen. Während seiner Versuche, die Tür zu öffnen, war das Wasser weiter gestiegen, und stand ihm mittlerweile fast bis an die Knie. Er klopfte gegen die Scheiben, aber draußen war niemand zu sehen. Er bekam Angst. Was, wenn seine Mutter nun doch recht gehabt hätte, und sie nun kommen, um ihn zu holen? Woher kam das ganze Wasser, das ihm inzwischen fast bis an die Hüfte stand, wo es draußen doch schon gar nicht mehr regnete? Er schrie und tobte in seiner kleinen Zelle, aber es war immer noch niemand zu sehen, und das Wasser stieg weiter. Ihm fiel ein, das er versuchen könnte, jemanden anzurufen, die Polizei oder die Feuerwehr, schließlich war er hier mit einem Telefon eingesperrt. Er nahm den Hörer ab, aber die Leitung war tot. Das Wasser reichte ihm schon an die Brust, während draußen langsam die Sonne hinter den Wolken hervorkam.

Und plötzlich wusste er es. Natürlich, seine Mutter hatte unrecht gehabt. Wenn sie ihn hätten holen wollen, dann gäbe es keinen besseren Augenblick als diesen. Er war allein, weit und breit kein anderer Mensch zu sehen, niemand würde etwas bemerken. Er würde einfach verschwinden. Aber er verschwand nicht. Das Wasser stieg in seiner Telefonzelle, aber der Boden öffnete sich nicht. Er würde einfach sterben, und in den Himmel kommen, so, wie sein Onkel es ihm versprochen hatte. Er würde nicht in die Hölle fahren, aber seine Mutter würde es, weil sie ihm solche Angst gemacht hatte mit ihren Geschichten. Er grinste zufrieden bei dem Gedanken daran. Wenn er nur wüsste, woher das ganze Wasser kam, aber neben seiner Erkenntniss verblasste dieses Problem zur Bedeutungslosigkeit. Als das Wasser seine Lungen füllte, erfüllte es ihn zugleich mit einem tiefen Frieden, und er richtete seinen letztem Blick voller Hoffnung in das Licht der Sonne.

Der Techniker von der Post erreichte die als defekt gemeldete Telefonzelle gegen Nachmittag. Er hasste diese Jobs, Telefonzellenreparaturen bei einem solchen Scheißwetter, er würde sich den Tod holen, und das war noch das Mindeste. Eben hatte noch die Sonne geschienen, aber natürlich, jetzt, wo er hinaus musste, zogen wieder Wolken auf. Er sah zu der Telefonzelle, und hasste sie von ganzem Herzen. Er wandte sich seinem Wagen zu, um seine Werkzeugtasche zu holen, als er sich plötzlich unwillkürlich noch einmal umdrehte. Merkwürdig, er hätte schwören können, dass dort, wo jetzt der nasse Betonfussboden der Telefonzelle im Licht der von Wolken verhangenen Sonne zu glänzen versuchte, eben noch ein großes Loch war…

Diese Kurzgeschichte ist veröffentlicht unter den Bedingungen der CC BY 4.0